Lieber Joschka Fischer, schade, dass Sie aus der Politik verschwunden sind. Ich sage das nicht, weil ich immer mit Ihnen einer Meinung gewesen wäre. Ich sage das, weil Sie für mich immer so etwas wie der Wegbegleiter meiner politischen Wahrnehmung waren. Das liegt zum großen Teil daran, dass ich als Mitglied des Jahrgangs 1964 zu der Generation von Erstwählern gehöre, die 1983 die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag schickte. Und damit auch Sie.
Wir, die sogenannten Babyboomer, entwickelten in einer Zeit erste politische Denkansätze, in der die großen Felder abgegrast waren. Die 1968er waren durch, viel vom sprichwörtlichen „Muff von 1000 Jahren“ hatte sich verzogen, an den Schulen gab es die SMV, die Schülermitverwaltung (später -mitverantwortung). Es gab kaum mehr Bollwerke alter Autorität, gegen die man anrennen konnte, sieht man von Franz Joseph Strauß und seiner CSU ab. Aber auch das hatten andere, ältere längst in die Hand genommen, da wartete niemand auf uns.
Und dann kam das Thema Umwelt auf. Irgendwann dämmerte uns, dass Umweltschutz nicht nur bedeutete, dass man seine Bonbonpapiere nicht einfach auf den Boden schmiss. Da gab es eine Anti-Atomkraft-Bewegung, eine Friedensbewegung, Menschenketten gegen den Nato-Doppelbeschluss. Dieter Salomon, der vier Jahre vor mir an meiner Schule in Oberstdorf Abitur machte, war 2002, als er zum ersten Mal in Freiburg gewählt wurde, der erste grüne Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt.
Er ist ein Realo, genau wie Sie. Nächste Woche, am 12. April, werden Sie 70, da verstehe ich schon, dass Sie es allmählich ruhiger haben wollen. Aber wie man liest, sind Sie ja nach Ihrem Abschied aus der Politik durchaus nicht untätig gewesen. Sie lehrten ein Jahr in Princeton und haben inzwischen eine eigene Beratungsfirma in Berlin. Ich muss zugeben, dass mir einige Ihrer Lobbyisten-Tätigkeiten nicht besonders sympathisch sind, andererseits ist es vielleicht nicht verkehrt, wenn jemand mit Ihrem Horizont und Ihrer Direktheit im ein oder anderen Megakonzern zu Wort kommt. Und ich gehöre bestimmt nicht zu denen, die erwarten, dass ein ehemals linksradikaler Aktivist ein Leben lang in einer Altbau-WG inmitten von Obstkisten lebt.
Was mir an Ihnen immer gefallen hat: Sie waren bei aller Durchsetzungskraft nie der glatte Aufsteiger mit dem lückenlosen Lebenslauf. Sie waren Ministrant, Schulabbrecher, Fotografenlehrling, Mitglied der Studentenbewegung und wohl auch Steinewerfer, Arbeitnehmeraktivist bei Opel, Buchhändler Taxifahrer, Bundestagsabgeordneter, Umweltminister in Hessen, Bundesaußenminister und Vizekanzler. Sie sind in weißen (immerhin sauberen) Turnschuhen, die heute im Museum stehen, zur Vereidigung als Umweltminister angetreten und haben sich auch mal im Ton vergriffen. Wenn man in Google „Herr Prä“ eingibt, führt die Suchmaschine hurtig zu Ihrem vielleicht bekanntesten Zitat: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“
Sie haben die deutschen Kriegseinsätze im Kosovo und in Afghanistan befürwortet (was viele in der Partei verstört hat), den im Irak lehnten sie ab. Sie lagen oft mit ihrer Partei im Clinch und doch hatte man immer den Eindruck, dass sie deren gar nicht so heimlicher Vorsitzender waren. Tatsächlich waren Sie es nie, aber es gab Zeiten, da hätte man sich die Grünen nicht ohne Sie vorstellen können.
Sie hatten etwas, was heute fast völlig fehlt in der Politik: Charisma. Ich kenne Leute, die haben Ihre Entwicklung so anteilnehmend mitverfolgt, dass sie sogar Ihr Buch „Mein langer Lauf zu mir selbst“ gelesen haben. So weit bin ich dann doch nicht gegangen, aber ich fand es immer irgendwie beruhigend, dass jemand wie Sie in der Politik dieses Landes mitwirkte.
Tatsächlich lässt sich wohl kaum überschätzen, wie sehr sich dieses Land unter dem Einfluss der Grünen verändert hat. Zum besseren, wie ich finde, auch wenn auf dem Weg dahin manch zermürbende Debatte und manch abstruser Beschluss offenbar sein mussten. Zwar hat Angela Merkel 2011 mit dem Atomaussteig ein zentrales Grünen-Thema ein für allemal abgeräumt, ohne jahrzehntelange grüne Vorarbeit wäre das aber nie denkbar gewesen.
Interessanterweise finden Sie nur lobende Worte für die heutige Parteispitze. Das ist schön und ein wenig überraschend, schließlich gibt es auch folgendes Zitat von Ihnen: „Dieser ewige Kampf zwischen Illusion und Realität, diese Diskussionen mit Leuten, die manchmal kaum wissen, worüber sie reden, haben mich erschöpft.“
Lieber Joschka Fischer, ich hoffe, diese Zeilen erreichen Sie in nicht allzu erschöpftem Zustand, wenn Sie am 12. April Geburtstag feiern.
Mit dankbaren Grüßen
Mathias Wiedemann
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