Sehr geehrter Herr Lehrieder,
noch bevor ich eingeschult wurde, lernte ich Ski fahren. Und auch wenn man sich als Skifahrer fragen kann, ob das Hobby ökologisch noch im grünen Bereich ist, und ob es überhaupt eine gute Idee ist, mit irrem Tempo einen Hang hinunterzurauschen – bei gleißendem Sonnenschein auf einem Berggipfel zu stehen und ins verschneite Tal zu fahren, ist einfach ein erhebendes Gefühl. Das nur als Hinweis, um nicht in Verdacht zu geraten, ein militanter Gegner dieses Freizeitvergnügens zu sein, wenn ich Ihnen nun sage: Skifahren in dieser Zeit, das geht gar nicht.

Warum schreibe ich Ihnen das? Nicht weil ich die Leute um ihren Spaß bringen wollte; nicht weil ich einer seit Monaten darbenden Branche den Umsatz nicht gönnte. Aber Skifahren würde sich im Moment so anfühlen, als stiege man bei einem kolossalen Hochwasser in ein Motorboot, würde damit die Front der vollgelaufenen Häuser abfahren und den Betroffenen mit aufheulendem Motor ins Gesicht grinsen. Spaß auf Kosten anderer – darum geht es. Darum geht es auch jetzt beim Skifahren.
Wo soll da Spielraum sein bei Inzidenzwerten um 200?
Als Tourismus-Beauftragter der Union im Bundestag schultern Sie gerade eine undankbare Aufgabe, Herr Lehrieder. Sie müssen Zuversicht säen, wo Verzweiflung wächst, müssen – um im Jargon der Branche zu bleiben – gut Wetter machen, wo dunkle Wolken aufgezogen sind. Allerdings frage ich mich: Sind es nicht falsche Hoffnungen, die Sie wecken, wenn Sie im Gegensatz zu Ihrem Parteichef Markus Söder "Sporttreibenden und Naturliebhabern das Skifahren mit Abstand ermöglichen" wollen? Gaukeln Sie da nicht auch jenen etwas vor, denen Sie eigentlich helfen wollen: Liftbetreibern und Hotelbesitzern, Gast- und Pensionswirten? Sie kennen die Zahlen, also wissen Sie, dass in den angesprochenen Gebieten gerade ganz vieles aus dem Ruder läuft. Dass im Ostallgäu der Inzidenzwert bei 110 liegt, in Bad Tölz bei 164 und im Berchtesgadener Land bei 204. Wo genau sehen Sie da jetzt Spielraum für Öffnungen?
Ich weiß nicht, ob Sie zur Fraktion der Skifahrer gehören. Aber, glauben Sie mir: Ich weiß, wie es an den Talstationen von Gondel- und Sesselbahnen zugeht. Das mit dem Abstand dort wird schwierig, weil Abstand auch etwas mit Anstand zu tun hat. Am Berg ist Zeit Geld. Jeder Skifahrer, der für 50 Euro oder mehr seinen Tagespass gekauft hat, will möglichst rasch die nächste Gondel erreichen. Sie wissen, was ich meine? Glauben Sie wirklich, das lässt sich durch gutes Zureden verhindern? Die gruseligen Bilder vom Oktober, als sich in so manchen Gletscherskigebieten die Leute vor den Gondeln stauten, beweisen das Gegenteil.
Es gibt einen Unterschied zwischen U-Bahn- und Sessellift-Fahrern
Es gibt Stimmen wie die des FDP-Politikers Albert Duin: "Wie will Söder den Menschen erklären, dass sie in einer voll besetzten U-Bahn mit Maske zusammensitzen dürfen, aber nicht unter freiem Himmel im Sessellift fahren dürfen?" Bei solchen Sätzen packt mich die Wut. So kann nur einer reden, der die Freiheit des Einzelnen über das Wohl der Allgemeinheit stellt. Dass U-Bahn-Passagiere meist nicht anders zu ihrer Arbeit kommen, Sesselliftfahrer dagegen nur ihr Vergnügen im Kopf haben, sollte einleuchten. Geben Sie Acht, Herr Lehrieder, dass nicht auch Ihre Gedanken mit Ihnen Schlitten fahren!

Hunderttausende Tote sind durch diese Pandemie zu beklagen, und täglich werden es mehr. Kein Kino, kein Theater, keine Konzerthalle hat hierzulande mehr geöffnet, die Kultur ist am Boden. Doch der Ski-Zirkus soll weiter frohlocken? Seien Sie ehrlich, Herr Lehrieder: Da kann etwas nicht passen! Dass die Österreicher stur an ihren Plänen festhalten, die Skigebiete noch vor Weihnachten zu öffnen, zeugt von Ignoranz – andere Länder sollten sich daran kein Beispiel nehmen. Leider scheint sich selbst in dieser existenziellen Bedrohung die Vernunft nicht überall durchzusetzen. Alles und jedes wird zum Geschäft degradiert – selbst das, was uns am allermeisten wert sein sollte: das Leben. Darf man, ja muss man in dieser Zeit nicht verlangen, dass alle Opfer bringen und jeder auf ein Stück persönliche Freiheit verzichtet?

Ischgl, dieser unselige Hotspot vom März, der Corona bis in die letzten Winkel Europas brachte, ist keineswegs Schnee von gestern. Ischgl, das ist eine Parabel auf die blind machende Gier in der österreichischen Tourismuswirtschaft. Lassen Sie es hierzulande nicht so weit kommen, Herr Lehrieder. Setzen Sie auf den gesunden Menschenverstand, der noch nie geschadet hat, aber gerade wichtiger denn je ist. Kämpfen Sie gegen grassierende Schneeblindheit, die sich vom Süden her ausbreitet!
Mit freundlichen Grüßen
Eike Lenz, Redakteur
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