Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich schreibe Ihnen als ehemaliger Teilnehmer der Bundesjugendspiele. Als einer von Millionen (ehemaligen) Kindern und Jugendlichen, die seit 1951 einmal pro Schuljahr auf einen Sportplatz gescheucht werden, um dort einen nicht enden wollenden Vormittag lang zu springen, zu werfen und zu rennen. Ich schreibe Ihnen überdies als Vertreter der 30 Prozent Teilnehmenden, bei denen es am Ende nicht mal für eine "Siegerurkunde" gereicht hat.
Seit 1991 bekommen diese bedauernswerten Tröpfinnen und Tröpfe wenigstens eine Teilnahmeurkunde, zu meiner Zeit gab's nur "Ehrenurkunde", "Siegerurkunde" oder eben nichts. Sie, Herr Steinmeier, sind übrigens deshalb Adressat dieses Briefs, weil Ihre Unterschrift beziehungsweise die Ihrer Vorgänger immer die "Ehrenurkunden" ziert. Nicht, dass ich jemals eine in Händen gehalten hätte, aber zur Zeit meiner ersten Teilnahme unterschrieb Gustav Heinemann.
Wettbewerb statt Wettkampf, lautet künftig die Devise
Seit ein paar Wochen nun herrscht mediale Aufregung. "Werden die Bundesjugendspiele abgeschafft?", wird landauf, landab diskutiert. Sie werden es nicht. Sie werden umstrukturiert - ein bisschen. Ab dem Schuljahr 2023/2024 werden die Übungen in den Grundschulklassen im Wettbewerbsmodus ausgetragen und nicht mehr als Wettkampf. Das hat irgendwas mit der Art der Punktevergabe zu tun und soll die Angelegenheit spielerischer machen. "Das Beschämen nicht so sportlicher Schülerinnen und Schüler gehört dann hoffentlich endlich der Vergangenheit an", meint jedenfalls Heike Ackermann von der Bildungsgewerkschaft GEW.
Für Nikolaus Blome im "Spiegel" ist die Reform hingegen ein apokalyptisches Symptom: "Das Ende der Bundesjugendspiele sagt mehr über gesellschaftliches Selbstverständnis und deutschen Niedergang, als uns lieb sein kann", unkt er. Ein Kollege, den ich insgeheim für seine sportlichen Leistungen bewundere, sagt: "Ich habe auch unter den Spielen gelitten. Ich war damals ein Pummelchen. Aber etwas abschaffen, nur damit keiner enttäuscht ist, das finde ich falsch."
Kaum ein Medium, das nicht mit der Beichte eines Bundesjugendspielversagers aufwartet
Ginge es nur darum, Kindern Enttäuschungen zu ersparen, müsste man den Reformern zurufen: Enttäuschungen gehören zum Leben, je früher man lernt, damit klarzukommen, desto besser. Ich war damals auch enttäuscht. Viel schwerer aber wog die Erfahrung, dass mir die Prozedur so wenig Spaß machte, dass ich niemals auch nur im Traum auf die Idee gekommen wäre, freiwillig Leichtathletik zu treiben. Da half auch nicht die Aussicht auf die Unterschrift des Bundespräsidenten.

Das scheint vielen so ergangen zu sein: Kaum ein Medium, das dieser Tage nicht mit der mehr oder weniger selbstironischen Beichte eines ehemaligen Bundesjugendspielversagers aufwartet. Meine ersten Bundesjugendspiele müssen 1973 in der 3. Klasse gewesen sein. Wie gesagt: Ich, Jahrgang 1964, besitze kein Dokument, das dies belegen könnte.
Ich weiß noch, dass ich mich unter praller Sonne nicht nur mit Lederkugeln, in Sandgruben und auf Hartbahnen abquälte, sondern als "Riegenführer" auch noch verantwortlich war, dass mein Häuflein rechtzeitig und vollzählig zu jeder neuen Station erschien. Das Absurdeste aber war, dass wir Übungen ausführen sollten, die wir nie zuvor im Sportunterricht durchgenommen hatten.
Auch Kunst, Musik oder Literatur können Wunderwerke der Vernetzung vollbringen
Im Aufruf des Bundesfamilienministeriums für die Bundesjugendspiele 2022/2023 heißt es: "Kinder und Jugendliche sollen mit Spaß und Freude an verschiedene Disziplinen und Umsetzungsformen der Grundsportarten Gerätturnen, Leichtathletik und Schwimmen herangeführt werden, sie ausprobieren können." Spaß und Freude sind mir damals nicht in den Sinn gekommen. Was habe ich diese Bundesjugendspiele gehasst! Überhaupt: Warum wird so eisern an den alten Disziplinen festgehalten? Reck, Barren, Hochsprung und so weiter. Es muss doch sportliche Betätigungen geben, die mehr Spaß machen.
Dass Sport und Bewegung enorm wichtig sind für die Entwicklung jedes Menschen, ist unbestritten. Aber auch Kunst, Musik oder Literatur können Wunderwerke der Vernetzung in heranwachsenden Gehirnen vollbringen. Trotzdem sind nur die Bundesjugendspiele für die Schulen Pflicht, bei den musischen Fächern muss man froh sein, wenn sie gelegentlich überhaupt stattfinden.
Herr Bundespräsident, Sie haben immer wieder engagierte Reden in Sachen Kultur gehalten. Zum Beispiel zur Eröffnung des Würzburger Mozartfests 2021. Wie wäre es, wenn Sie sich für verpflichtende Bundesmusiktage oder Bundeslesetage einsetzen würden? Die sollten dann allerdings ohne "Ehrenurkunden" und den ganzen Schnickschnack auskommen.
Mit sportlichem Gruß
Mathias Wiedemann, Redakteur
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