Liebe Deutsch-Türken,
ich kann nicht verhehlen, dass es mich ratlos macht, wie viele von Ihnen am Sonntag Erdogan gewählt haben. Es gibt zwar die Argumentation, so viele seien es gar nicht gewesen – aber 430 000, das sind zu viele. Die Rechnung geht so: Etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Knapp 1,5 Millionen sind türkische Staatsbürger, 1,44 Millionen wahlberechtigt. Von denen sind 46 Prozent (übrigens eine deutliche niedrigere Wahlbeteiligung als in der Türkei) zur Wahl gegangen, macht 662 400 Wähler. Und von diesen haben 64,8 Prozent für Erdogan gestimmt, also knapp 430 000 Menschen.
Wie man es dreht und wendet, es haben sehr viele Menschen für einen Präsidenten gestimmt, der sich mit vielen Mitteln Stück für Stück zum Diktator vorarbeitet. Seit Juli 2016 regiert er mit Notstandsdekreten, dank Verfassungsänderung ist er gleichzeitig Staatspräsident und Regierungschef, er kann stärker Einfluss auf die Justiz nehmen als je zuvor. Der Europarat hat das einen „dramatischen Rückschritt der demokratischen Ordnung“ genannt. Wer Erdogan kritisiert, Oppositionelle wie Journalisten, wird als Terrorist ins Gefängnis geworfen. Nach jeder Wahl werden Vorwürfe von Manipulation und Einschüchterung laut. Erdogan hingegen stellt sich selbst als Retter der Demokratie dar.
Wie passt das zusammen?
Aber was erzähle ich Ihnen das, Sie haben hier ja – im Gegensatz zur Türkei – Zugang zu jeder Menge freier und sauber recherchierter Information. Sie könnten all das wissen. Sie könnten auch wissen, dass Deutschland ein anderer Staat ist als die Türkei. Hier schützen Recht und Gesetz auch und gerade die Schwachen und die Kritischen. Hier herrscht echte Meinungsfreiheit, hier herrscht echte Gewaltenteilung.
Wie also passt das zusammen? Wünschen Sie sich, liebe Deutsch-Türken, die Sie für Erdogan gestimmt haben, in Deutschland Zustände wie in der Türkei? Dann wären Sie damit nicht alleine, meint jedenfalls Cem Özdemir, ehemals Grünen-Vorsitzender, per Twitter: „Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger feiern nicht nur ihren Alleinherrscher, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben.“
Glücklicherweise gibt es auch andere Stimmen. Etwa diesen Facebook-Post eines Deutsch-Türken: „Keine Handlung ist an Absurdität zu übertreffen, als in einem Land zu leben, dessen freiheitlich demokratische Grundordnung auf der Gewaltenteilung basiert und alle Vorzüge vollumfänglich zu genießen und gleichzeitig gegen die Gewaltenteilung eines anderen Landes abzustimmen und obendrein das Ganze als demokratischer zu propagieren.“
Deutschland hat es Ihnen nicht leicht gemacht ...
Was also spricht dafür, als in Deutschland lebender türkischer Wahlberechtigter Erdogan zu wählen? Ich würde es gerne verstehen. Ich weiß natürlich, dass dieses Land es Ihnen nie leicht gemacht hat. Als die erste Generation Türken nach Deutschland kam, gingen beide Seiten davon aus, dass sie das Land irgendwann wieder verlassen würden. Daher der Ausdruck „Gastarbeiter“. Vielleicht war das der Grund, warum sich beide Seiten nie so richtig um ein Miteinander bemüht haben.
Ich kann nachvollziehen, wenn ein Gefühl der Fremdheit geblieben ist. Wenn viele von Ihnen sich zwischen zwei Welten zerrissen fühlen – selbst wenn sie der bereits dritten Generation angehören und die Türkei nur aus dem Urlaub kennen. Niederträchtige Slogans wie „Ausländer raus!“, die unselige Diskussion, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, oder die Debatte über eine Leitkultur mit dem (vorläufigen) Höhepunkt des bayerischen Kreuz-Erlasses haben dabei sicher nicht geholfen. Ja, und ich kenne natürlich auch den Satz „Erdogan hat uns unseren Stolz zurückgegeben“.
... aber Erdogan-Lager übt massiven Druck aus.
Ich weiß aber auch, dass das Erdogan-Lager auf vielen Kanälen massiv Druck in Deutschland macht. Offenbar ist es gelungen, in weiten Kreisen der Wählerschaft die Stimme für Erdogan zu so etwas wie einer gesellschaftlichen Pflicht zu machen. Erdogan-Skeptiker oder gar -Gegner werden auch in Deutschland als Abtrünnige oder Verräter diffamiert und ausgegrenzt.
„Viele Türken entscheiden rein emotional, ohne an die Konsequenzen zu denken“, erzählte mir ein resignierter Deutsch-Türke. „Außerdem sind sie von ihrer Erziehung her amtshörig – hochgestellte Persönlichkeiten werden grundsätzlich nicht kritisiert. Wer nicht zum Außenseiter werden will, wählt dann eben Erdogan.“
Aber es macht es nicht besser, wenn die Gegner der Demokratie dank Mitläufertum oder Einschüchterung an die Macht kommen. Die Demokratie braucht aktive Verteidiger. Egal wo und egal, woher sie stammen. Wenn uns das gelänge, Deutschen und Deutsch-Türken gemeinsam, dann hätten wir alle miteinander einen echten Grund stolz zu sein.
Mit den besten Empfehlungen
Mathias Wiedemann
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