Hoffentlich trifft die Statistik nicht zu, möchte man am liebsten sagen: Nach den Erkenntnissen von Professor Armin Schmidtke beträgt die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Amokereignissen durchschnittlich 18,5 Tage – mit einer Standardabweichung von 21,4 Tagen.
Der Vorsitzende des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland forscht seit vielen Jahren zu diesem Thema. Zusammen mit Wissenschaftskollegen aus Mannheim und den USA hat Armin Schmidtke, der lange als Leitender Psychologe an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Würzburg tätig war, insgesamt 291 Amokläufe weltweit zwischen 1993 und 2007 untersucht. Beteiligt waren 278 Täter und zwölf Täterinnen. Über ihre Amoktaten wurde jeweils ausführlich in den Medien berichtet.
Aus dieser Analyse resultiert das unheimlich anmutende Ergebnis, dass mit einem Amok durchschnittlich jede dritte Woche zu rechnen ist. Der Grund ist laut Schmidtke nicht Zufall, sondern Nachahmung. „In der Hälfte der Fälle erfolgte eine Imitation sogar innerhalb von zehn Tagen“, sagte der Psychologe in einem Gespräch mit dieser Redaktion.
Das ist jedoch nicht das einzige Forschungsergebnis aus dieser langjährigen Studie. So geschehe der klassische Amok nur für Außenstehende ohne einen ersichtlichen Grund – wie am Freitagabend in München. Er entspringt keineswegs einer spontanen Idee, so Schmidtke. Das sei weder bei dem Würzburger Angriff der Fall gewesen noch bei dem Münchner Amoklauf.
Ohnehin findet der Psychologe die Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen „Terrorakt“ und „Amok“ schwierig. Es gebe Überschneidungen, in München sei die Sachlage jedoch eindeutiger. Dort handelt es sich laut Schmidtke um Amok – der jedoch keine Nachahmung der Würzburger Tat darstelle.
Der Forscher unterscheidet mehrere Phasen einer Amokhandlung: Sie beginnt mit „Brüten“ beziehungsweise intensivem Nachdenken, der Amokforscher nennt es „eine Art depressive Einengung“. Anschließend folgt der „Mordausbruch“ ohne ein zunächst offenkundiges Motiv. Häufig geht er, so Schmidtke, mit einer Psychose oder einem geistig verwirrter Zustand einher.
Die nächste Phase – sofern der Täter überlebt – ist ein schlafähnlicher Zustand, der Stunden oder auch einen Tag anhalten kann. „Später können sich die Täter nicht mehr an ihre Amokhandlung erinnern.“ Meist überleben Amokläufer ihre Tat jedoch nicht. „Sie kalkulieren ihren Tod mit ein und provozieren entweder, dass sie von der Polizei erschossen werden – oder sie begehen Suizid.“ Wenn sie sich das Leben nehmen, dann töten sie doppelt so viele Menschen als diejenigen Täter, die nicht sterben möchten.
„Amok ist ein überaus aggressives Verhalten“, sagt Schmidtke. „Meist wird er von Männern verübt, die zwischen 20 und 35 Jahre alt sind.“ Sie würden in der Regel ihre Tat vorher direkt oder indirekt ankündigen – „was oft nicht ernst genug genommen wird“. Herauszufinden, was das Fass letztlich zum Überlaufen bringt, sei im Nachhinein nicht immer möglich. Sicher sei, dass es sich in vielen Fällen um tief gekränkte Menschen handelt. Der ehemalige Würzburger Psychologe bezeichnet Amoktäter als „Sammler von Ungerechtigkeiten“.
Jede vermeintliche Herabwürdigung bleibe ihnen im Gedächtnis haften, selbst wenn sie sehr lange zurückliegt. „Sie vergessen nichts und sinnen auf Rache.“
Auch bei dem Amoktäter aus München vermutet Professor Schmidtke Kränkung und Rache als Motiv. Darauf deuten Äußerungen bei der kurzen Schreierei des Münchner Amoktäters mit einem Anwohner hin, die im Video festgehalten wurde: „Ich bin ein Deutscher“, ist zu hören und: „Wegen euch wurde ich gemobbt.“ Womöglich wurde er wegen seiner äußeren Erscheinung mal als Ausländer beschimpft, so Schmidtke. Was der Forscher allerdings noch nie erlebt hat: dass ein Amoktäter sagt, dass er in Behandlung gewesen sei. „Das ist sehr ungewöhnlich.“
Dass die Münchner Tat nicht spontan geschah, darauf weist auch hin, dass sich im Zimmer das Buch „Amok im Kopf. Warum Schüler töten“ des US-Psychiaters und Psychotherapeuten Peter Langman befand. „Der junge Mann hat wohl gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt und sich immer weiter hineingesteigert, bis es eine obsessive Idee wurde, die in Wahn umgeschlagen ist.“
Kein Zufall ist es für Armin Schmidtke, dass der Münchner Amoklauf genau am fünften Jahrestag des Massakers von Norwegen stattfand. Der Massenmörder Anders Behring Breivik könnte ein Vorbild für ihn gewesen sein. Ein Hinweis ist, dass am Sonntag auf der Pressekonferenz in München bekannt wurde, dass der 18-Jährige wie Breivik ein Manifest verfasst hat.
Ebenfalls kein Zufall sei, dass überwiegend Jugendliche dem Münchner Amoklauf zum Opfer fielen. „Zu dieser Zielgruppe muss es einen Bezug geben“, sagt Schmidtke.
Der Wissenschaftler plant, die 2008 publizierten Forschungsergebnisse zu aktualisieren und den Aspekt Nachahmung bei Amok und Prävention weiter zu vertiefen.
Bei der jüngst veröffentlichten „Kriminologischen Analyse von Amokdaten“ bei jugendlichen und erwachsenen Tätern bis 24 Jahre der Universität Gießen lag der Schwerpunkt unter anderem auf Strafakten, Selbstzeugnisse von Tätern sowie Interviews mit Opfern und dem sozialen Umfeld. Laut Projektleiterin Professor Britta Bannenberg zeigt die Persönlichkeit von Amoktätern narzisstische und paranoide Züge.
Auch sie kommt zu dem Ergebnis, dass die jungen, überwiegend männlichen Täter extrem kränkbar seien, aber nicht impulsiv oder aggressiv auffällig. „Sie fühlen sich oft gedemütigt und schlecht behandelt, ohne dass die Umwelt dieses nachvollziehen kann und beginnen, im Internet nach Vorbildern und Ventilen für ihre Wut zu suchen“, fasst Kriminologin Bannenberg unter anderem zusammen. Sie würden lange über Rache und eine grandiose Mordtat nachsinnen und ausgeprägte Gewalt- und Tötungsfantasien entwickeln. Foto: Pat Christ