War die DDR ein „Unrechtsstaat“? Diese Frage erhitzt wieder einmal die Gemüter, aktuell veranlasst durch die anstehende Regierungsbildung in Thüringen. Dabei ist die Frage bei Historikern, Politologen und selbst bei DDR-Juristen, wie etwa dem Präsidium des Obersten Gerichts der DDR, längst entschieden. In einem Beschluss dieses Gremiums wird schon am 6. Dezember 1989 festgestellt, dass die frühere Partei- und Staatsführung die „Grundrechte von Bürgern“ massiv eingeschränkt hat (Quelle: Bundesarchiv DP 2-1960). DDR-Juristen sprechen allerdings lieber von einem „Nicht-Rechtsstaat“.
Das heißt nun nicht, dass die DDR-Bürger in einem sozusagen „gesetzlosen“ Raum lebten. Natürlich ging es nach Recht und Gesetz zu, wenn es um Rechtshandlungen im Alltag wie eine Eheschließung vor dem Standesbeamten, den Abschluss eines Arbeitsvertrages oder den Einkauf von Lebensmitteln ging. Das alles war, wie auch das Erbrecht und die Verkehrsregeln, zweifellos korrekt in Paragrafen erfasst, die Beziehungen der Menschen untereinander ordneten.
Warum aber wird der DDR dennoch die Qualität eines Rechtsstaates abgesprochen? Dem kommt man nur bei, wenn man das Verhältnis zwischen Staat und Bürger betrachtet. Und das wird gewöhnlicherweise in der Verfassung niedergeschrieben, so auch in der DDR. Und davon soll hier ausschließlich die Rede sein. Allein schon, um dem Vorwurf zu begegnen, man messe das SED-Regime an Maßstäben von außen.
Ob ein politisches System sich an Mindeststandards zivilisierter Rechtskultur hält, zeigt sich eben nicht am Wortlaut der Verfassungsartikel, sondern an der Rechtspraxis. Und genau hier beginnt der „Unrechtsstaat DDR“. Nur einige wenige Beispiele sollen das verdeutlichen. Schon in Artikel 1 der Verfassung der Republik, die sich selbst „demokratisch“ nennt, wird die Herrschaft des Volkes einfach aufgehoben. Da heißt es: „Die DDR ist . . . die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Ungeniert wird der Staat also der SED unterstellt. Und das Regime hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es sich an diese Verfassungsbestimmung hält.
Ganz anders etwa bei Artikel 8, in dem die „persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, gewährleistet wird“. Unzählige DDR-Bürger mussten bei willkürlichen Verhaftungen (Zuführungen hieß das im Jargon der Stasi) schmerzlich erfahren, wie dieses Recht mit Füßen (oftmals im wahrsten Sinne des Wortes) getreten wurde. Die Staatssicherheit scheute sich auch nicht, in Wohnungen einzubrechen, um dort Abhörwanzen zu installieren. Von der millionenfachen Bespitzelung und Überwachung im Briefverkehr und abgehörten Telefongesprächen zeugen riesige Aktenberge.
„Schießbefehl“
Ein besonders schlimmes Kapitel rankt sich um die „Gewährleistung“ der Niederlassungsfreiheit. Mehr als 200 Tote hat es allein an der Mauer in Berlin gegeben, weil DDR-Bürger dieses Menschenrecht in Anspruch nehmen wollten. Sie wurden mit Waffengewalt daran gehindert. „Schießbefehl“ ist hier das makabre Stichwort. Zwar haben Staats- und Parteichef Erich Honecker und alle anderen SED-Funktionäre lange die Existenz des Befehls immer wieder geleugnet. Doch sind nach der Wiedervereinigung Akten aufgetaucht, die eindeutige Beweise liefern. So heißt es in einem Protokoll einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974 (Quelle: Bundesarchiv MZA, VA - 01/39503): „Genosse Vorsitzender Erich Honecker führte aus: , . . . nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.‘“ Der Schusswaffengebrauch ist auch im sogenannten Grenzgesetz der DDR vom 25. März 1982 dokumentiert.
Einen unrühmlichen Abschnitt in der Geschichte des SED-Staates bildet auch die politische Justiz. Nun soll jedoch der DDR nicht der Vorwurf gemacht werden, ihre staatliche und rechtliche Ordnung mit den Mitteln des Strafrechts geschützt zu haben. Das ist eine durchaus legitime Aufgabe und wird auch in demokratischen Staaten wahrgenommen. Aber die Art und Weise, wie die DDR mit den Mitteln des Strafrechts – oder besser gesagt unter dem Schein des Rechts – politische Prozesse geführt hat, um die Herrschaft der SED durchzusetzen und zu sichern, lässt jede Rechtsqualität vermissen.
Das Regime in Ost-Berlin scherte sich weder um den Verfassungsartikel 127, in dem es heißt: „Die Richter sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen“, noch hielt es sich an das in Artikel 133 garantierte Prinzip der öffentlichen gerichtlichen Verhandlung. In dem bereits erwähnten Beschluss des Präsidiums des Obersten Gerichts der DDR vom 6. Dezember 1989 wird das ebenso bitter wie eindeutig beklagt: „ . . . damit kam es zu Einmischungen in die richterliche Unabhängigkeit durch Beschlüsse des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrats, durch Funktionäre der SED sowie durch andere Organe. Das hat auch Auswirkungen auf die Leitung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht gehabt.“ So wurde auf eine Anweisung Erich Honeckers in einem Prozess die Todesstrafe beantragt. Staatsanwalt und Gericht folgten der Anweisung, das Urteil wurde vollstreckt. Das Dokument, eine Hausmitteilung des Zentralkomitees, befindet sich im Bundes-Archiv unter der Nummer DY 30/IV 2/2031/12. Das ist ein glatter Bruch des Verfassungsartikels 5, Absatz 3: „Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen können andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe staatliche Macht ausüben.“
Im Übrigen: Der Begriff „Unrechtsstaat“ richtet sich keineswegs gegen die große Masse der ehemaligen DDR-Bürger, auch wenn das Ex-Funktionäre der SED immer wieder behaupten. Das ist ebenso falsch wie perfide, um von der Verantwortung abzulenken. Der Vorwurf gilt allein dem System, seinem Regime und ihren willfährigen Helfern.