In den Vitrinen vor Rainer Eppelmanns Büro in der Berliner Innenstadt liegen alte Bücher. „Wir sprengten unsere Ketten“ lautet ein Titel. „Entwürfe für einen anderen Sozialismus“ ein anderer. Worte aus einer anderen Zeit. In Eppelmann lebt diese Zeit weiter. Aber nicht als verklärte Erinnerung. Er will, dass vor allem die Jugend begreift, was es hieß, in einer Diktatur zu leben, und noch mehr, wie man ihr widerstehen konnte.
Engstirnige Parteipolitik kann der 66-Jährige auch heute noch nicht leiden. Das bereitet ihm „Schüttelfrost“, wie er sagt. Einer seiner engsten Freunde ist „der Markus“. Markus Meckel, letzter DDR-Außenminister und SPD-Abgeordneter. Eppelmann war letzter DDR-Verteidigungsminister und bis 2005 CDU-Abgeordneter. Die beiden kennen sich schon aus der Zeit der DDR-Bürgerbewegung. Und diese Zeit lässt sie nicht los. Eppelmann ist jetzt ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Meckel leitet den Stiftungsrat.
Eppelmann kommt zu spät zum vereinbarten Gespräch und setzt erst einmal die Schiebermütze ab. Ein Termin beim Bundespräsidenten hat länger gedauert. Zusammen mit Horst Köhler hat er in den letzten beiden Jahren fünf Diskussionen mit Schülergruppen geführt, immer eine Klasse aus dem Westen und eine aus dem Osten zusammen, und darüber geredet, was in der DDR ein „aufrechter Gang“ sein konnte. Das ist gerade im Schloss Bellevue als Buch präsentiert worden.
Verweigerung beim Fahneneid
Sein aufrechter Gang begann 1966. Der gebürtige Berliner hatte bis dahin einen abgebrochenen Oberschulbesuch und eine Maurerlehre hinter sich. Das Proletarische ist bis heute nicht raus. Er berlinert breit und sagt auch mal, „warum sollte ick so'ne Scheiße mitmachen?“ Gemeint ist der Dienst bei der Nationalen Volksarmee. Eppelmann war 23 Jahre alt und verweigerte nicht nur den Kriegsdienst, sondern auch den Fahneneid als Bausoldat. Dafür saß er acht Monate lang in Ueckermünde ein. Danach studierte er Theologie an einer Fachschule und wurde Pfarrer der Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain. Hätte ihn die DDR nicht eingesperrt, hätte sie ihn auch etwas anderes studieren lassen, „vielleicht“, sagt Eppelmann heute, „hätten sie mich sogar wieder gekriegt“. Stattdessen freundete er sich mit Robert Havemann an und wurde mit ihm zusammen zum Kristallisationspunkt der DDR-Bürgerbewegung. Eppelmann schaufelte mit am Grab der SED.
Es begann klein. Erst waren es die Blues-Messen, die der junge Pfarrer in seiner Gemeinde praktizierte. Musik, Gedichte, Gedanken. Und zwar auch die, die man sonst nur verschämt dachte. Eppelmann hob die DDR-übliche Trennung zwischen öffentlichen und privaten Wahrheiten auf, und die jungen Menschen strömten aus dem ganzen Land zu ihm. „Für Demonstrationen brauchte man eine Genehmigung, die man natürlich nie bekam. Für Gottesdienste nicht.“ Eppelmann lächelt noch heute über diese friedliche List, die zum Prinzip der Bürgerbewegung wurde. Als der Staat eine Definition des Begriffes Gottesdienst verlangte, intervenierte er bei seinem Bischof Albrecht Schönherr. „Um Gottes Willen, Herr Bischof, machen Sie das nicht.“ Die Kirchenführung war nicht immer einverstanden mit dem Treiben. Eppelmann erinnert sich an eine Begebenheit aus dem Jahr 1973. Bischof Schönherr hatte ihn zum Rapport geladen. „Ihretwegen“, habe Schönherr gesagt, „muss ich jetzt zum Staatssekretär für Kirchenfragen und mich für die Tochter eines Bruders einsetzen, die trotz lauter Einsen im Abitur nicht Physik studieren darf“. Eppelmann ärgert sich noch heute, dass Schönherr „mir kleenem Pfarrer“ ein schlechtes Gewissen machen wollte. Allerdings ist er im Nachhinein froh, dass die Sache gut ausging. Die Pfarrerstochter, um die es ging, hieß Angela Kasner, heute Merkel.
Im Westen wurde die neue Bewegung kaum registriert, doch wurde sie immer politischer. 1982 veröffentlichte Eppelmann zusammen mit Havemann auf dem Höhepunkt der Debatte um die Stationierung von Mittelstreckenraketen den „Berliner Appell“, einen Aufruf zu Frieden und Abrüstung in Ost und West. „Böse Pershings und SS 20 als Friedenstauben, det konnte et ja wohl nicht sein.“ Nach und nach stockten die Oppositionellen ihre Themenpalette auf, bis an die Grenze dessen, was der Staat gerade noch nicht verbieten konnte, ohne seine eigene Propaganda Lügen zu strafen. Das Umweltthema kam Mitte der 80er Jahre hinzu, bald auch die Menschenrechte, denn die Regierung prangerte deren Verletzung in Südafrika und Chile an. „Wir fragten ganz einfach: Wat ist mit den Menschenrechten bei uns?“
1987 versuchten einige seiner Kirchenmitglieder zum ersten Mal dem Staat die Fälschung von Wahlen nachzuweisen, doch war man beim Urnengang zur Volkskammer noch zu unorganisiert. Erst im Mai 1989 bei der Kommunalwahl konnten die Kirchengruppen dem Staat flächendeckende Manipulationen der Ergebnisse nachweisen. Vorneweg Eppelmanns Bezirk Berlin-Friedrichshain, wo in allen Wahllokalen Beobachter der Kirche die öffentliche Auszählung protokollierten und bewiesen, dass sie mit den hinterher bekannt gegebenen Ergebnissen nicht übereinstimmten.
Ausreisewelle im Sommer 1989
Ab dem Sommer 1989 aber gab es noch eine zweite Bewegung, die mindestens genauso bedeutsam für den Zusammenbruch des Regimes war: die Ausreisewelle. Eppelmann begegnete ihr bald, denn es gab auch in seiner Gemeinde viele Ausreisewillige, die Unterstützung suchten. „Ich habe denen gesagt: Ihr wollt raus aus diesem Staat. Wir wollen drinbleiben, um ihn zu verändern. Det passt nicht zusammen“. Heute räumt Eppelmann ein, dass er die Ausreisebewegung unterschätzt hat. Denn erst der Zusammenschluss von Bürgerbewegten und Ausreisewilligen brachte die große Wende. Der aber passierte nicht in seiner Gemeinde, sondern in der Nikolaikirche in Leipzig. Nun wurden aus den paar Hundert Oppositionellen, die die Stasi im Griff zu haben glaubte, mit einem Schlag Hunderttausende. „Revolution ist dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“, sagt Eppelmann. „Und det hatten wa nun.“
Vieles hätte in seiner Rückschau anders laufen können, als es gelaufen ist. Zum Beispiel hätte die Bürgerbewegung weniger zersplittert sein können, als sie dann im Herbst 1989 war. Noch heute hadert Eppelmann damit, dass Bärbel Bohley mit der Gründung des „Neuen Forums“ vorpreschte, obwohl er sie gebeten hatte, den Zusammenschluss mit seinem „Demokratischen Aufbruch“ nicht zu verbauen.
Vertane Chance
„Diese Chance wurde vertan.“ Bei den ersten freien Volkskammerwahlen 1990 wählten die DDR-Bürger dann die aus dem Westfernsehen wohlvertrauten Parteinamen CDU oder SPD, statt die Bürgergruppen mit ihren blumigen Bezeichnungen. Eppelmann selbst hätte damals übrigens leicht als SPD-Kandidat antreten können, wenn die Sozialdemokraten nur gewollt hätten. Bereits im Sommer 1988 unterbreitete er dem SPD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Schmude bei einem Spaziergang in Ost-Berlin die Idee, in Friedrichshain den Unterbezirk der SPD wieder aufleben zu lassen. Formal war der, hatte Eppelmann herausgefunden, nämlich niemals aufgelöst worden. Schmude sagte zu, den Vorschlag der Bonner Parteiführung zu übermitteln. Aber Eppelmann bekam nie eine Antwort. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre“.
Weil er sich im Bewusstsein hielt, wie viele Zufälle ihn in die CDU gebracht haben, und wie vieles auch ganz anders hätte kommen können, sagt er heute, dass eine Partei für ihn „niemals die letzte Größe“ und „keine heilige Kuh“ sei. Schon gar nicht solle jemand kommen, was schon passiert sei, Parteipolitik in die Arbeit seiner Stiftung zu tragen. „Dafür sind wir nicht da.“ Vor einem Jahr bat Innenminister Wolfgang Schäuble Eppelmann, an den Vorbereitungen für die diesjährigen Jubiläumsfeiern mitzuarbeiten. Eppelmann sagte zu, verlangte aber gleich in der ersten Sitzung, „dass unsere Erinnerung gleichberechtigt berücksichtigt wird. Und zwar auf Augenhöhe“. Denn es könne ja wohl nicht sein, dass 1989 „nur noch über die tollen 60 Jahre Grundgesetz und vielleicht noch die tollen Verdienste von Helmut Kohl“ geredet werde, „aber nicht über das, was die friedliche Revolution war“. Auf Augenhöhe, das ist der Platz, wo der einfache Maurer und widerspenstige Pfarrer Rainer Eppelmann sich immer sah und immer noch sieht. Gegenüber Demokraten, aber erst recht gegenüber Diktatoren.
Zur Person
Rainer Eppelmann Rainer Eppelmann wurde 1943 in Berlin geboren. In der DDR arbeitete er als Maurer. Wegen Wehrdienst- und Gelöbnisverweigerung wurde er 1966 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Nach dem Studium der evangelischen Theologie ab 1969 wurde er Gemeindepfarrer in Berlin-Friedrichshain. Eppelmann war Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs in Ost-Berlin. Ab 1990 war er Mitglied der DDR-Volkskammer und Verteidigungsminister. Nach der Wiedervereinigung zog er für die CDU in den Bundestag ein.