Jede Krise birgt auch eine Chance. Für die Türkei liegt sie in der Rückbesinnung auf Europa. Dafür müsste Staatschef Recep Tayyip Erdogan allerdings zur Vernunft kommen. Das könnte schwierig werden.
Erdogan war in den vergangenen Jahren kein einfacher Partner. Angetreten ist er 2002 als ein Hoffnungsträger – nicht nur für viele Türken, sondern auch für jene Europäer, die sich eine demokratische, stabile Türkei als Wirtschafts- und Sicherheitspartner wünschen. Erdogan entmachtete die Militärs, die heimlichen Herrscher des Landes. Er öffnete die einst dirigistische Wirtschaft und bescherte damit der Türkei einen in ihrer jüngeren Geschichte beispiellosen Aufschwung. Mit Reformen wie der Abschaffung der Todesstrafe ebnete Erdogan den Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union – ein beachtliches politisches Lebenswerk.
Erdogan hat sich zum autoritären Alleinherrscher aufgeschwungen
All das steht jetzt auf dem Spiel. Mehr und mehr entpuppt der Staatschef sich als autoritärer Alleinherrscher. Er demontiert die Gewaltenteilung und suspendiert die Menschenrechte, um seine absolute Macht zu zementieren. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Justiz wird gegängelt. Gnadenlos verfolgt Erdogan seine Kritiker, dämonisiert politische Gegner als „Terroristen“. Und nun führt er mit seinem ökonomischen Starrsinn das Land in die schwerste Finanzkrise seit 2001. Der Währungsverfall und die galoppierende Inflation könnten zu politischen Unruhen führen.
Das muss auch Europa und die USA beunruhigen. Die Finanzkrise von 2001 blieb eine türkische Krise. Aber anders als damals sind heute die Finanzsysteme und Volkswirtschaften viel enger vernetzt. Europäische Banken haben sich mit Milliardenkrediten in der Türkei engagiert. Gab es 2001 nur ein paar Hundert deutsche Unternehmen in der Türkei, sind es heute rund 6500.
Niemand kann sich wünschen, dass die Türkei ins wirtschaftliche und politische Chaos abgleitet. Dazu ist das Land sicherheitspolitisch für den Westen zu wichtig. Beispielhaft zeigt sich seine Bedeutung im Kampf gegen die IS-Terrormiliz. Er hätte ohne die südtürkische Luftwaffenbasis Incirlik nicht so wirksam geführt werden können. Wenn der türkische Staatschef jetzt von „neuen Freunden und Verbündeten“ spricht, spielt er damit die russische Karte. Putins Außenminister Sergei Lawrow machte bei seinem Besuch in Ankara diese Woche den Türken bereits Avancen.
Der Westen hat ein Interesse daran, den Bruch zu vermeiden
Russland könnte zwar für die Türkei niemals die Europäische Union ersetzen. Mit der EU wickelt das Land mehr als die Hälfte seines Außenhandels ab, von dort kommen die meisten ausländischen Investitionen und jenes Risikokapital, ohne das die Türkei längst pleite wäre. Aber auch der Westen hat ein Interesse daran, dass es nicht zum Bruch kommt. Es ist keine angenehme Vorstellung, dass Erdogan den Amerikanern in Incirlik den Stuhl vor die Tür setzen und die Russen einladen könnte, dort ihr Militär zu stationieren.
Europa muss deshalb jetzt das Gespräch mit Ankara suchen. Das gilt insbesondere für Deutschland, den wichtigsten Handelspartner. Bisher schien es so, als sitze Erdogan in der Flüchtlingspolitik am längeren Hebel. Aber jetzt hat Berlin einiges in der Hand. Die Türkei braucht Finanzhilfen der EU dringender denn je. Hilfe kann es allerdings nur gegen Bedingungen geben. Erdogan muss die ausländischen Gefangenen, die er als Geiseln festhält, freilassen. Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion und Gespräche über visafreie Reisen kann es nur geben, wenn die Türkei ihre Anti-Terror-Gesetze lockert.
Keiner weiß allerdings, ob der türkische Staatschef, der offenbar zunehmend in einer Parallelwelt lebt, den Ernst der Situation überhaupt erkennt und für ein vernünftiges Gespräch zugänglich ist. Aber versuchen muss man es.