Wut am Steuer! Der Hass gibt Gas! Solche Schlagzeilen formulieren den Unmut darüber, dass die Aggressivität auf Deutschlands Straßen zunimmt. Ein Drittel der Unfälle mit Todesfolge ist auf aggressive Fahrweise zurückzuführen, sagen Unfallforscher. Zu oft sitzen Wüteriche hinter dem Lenkrad. Der Verkehrsgerichtstag in Goslar nimmt sie bis Freitag ins Visier.
Politiker vermeiden das tunlichst. Ihnen fehlt der Mut, sich gegen die Autolobby durchzusetzen und wirksame Maßnahmen zu verordnen, die das Geschehen in Bahnen lenken und befrieden. Die Regierung tut nur so, als täte sie was. Sie appelliert an die Vernunft, stellt Programme auf, startet Kampagnen. Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) redet wie seine Vorgänger vom Mix der Maßnahmen und hat vollmundig verkündet, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Prozent senken zu wollen.
Freiwilligkeit hat Vorfahrt. Auch Ramsauer verzichtet auf die Helmpflicht für Radfahrer, auf verpflichtende Gesundheitschecks für Senioren, die weiter Auto fahren wollen. Er verspricht mehr Kontrollen. Personal und moderne Videotechnik für die Polizei bleiben aber Mangelware. Kein Wunder, dass nach einer Studie des Interdisziplinären Zentrums für Verkehrswissenschaft (IZVW) in Würzburg 80 Prozent der Autofahrer die Wahrscheinlichkeit für gering bis sehr gering halten, dass ein drängelnder Fahrer von der Polizei entdeckt wird.
Wie seine Vorgänger ist auch der derzeitige Verkehrsminister Gegner eines generellen Tempolimits auf Autobahnen. Dabei wissen wir, dass vor allem dort gerast, gedrängelt und gepöbelt wird. Eine Ursache für die Wut am Steuer ist der Zeitdruck, dem die Arbeitnehmer in der globalisierten, liberalisierten Arbeitswelt ausgesetzt sind. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes ist gewachsen, nicht nur in der Logistikbranche nimmt der Zeitdruck immer extremere Formen an. Wenn Lkw-Fahrer rücksichtslos und angriffslustig fahren, wird ihr Verhalten von anderen Verkehrsteilnehmern kopiert.
Gilt nicht ohnehin das Recht des Stärkeren? Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung jedenfalls hat die Ellenbogenmentalität gefördert, Rücksichtnahme wird oft als Schwäche ausgelegt. Wen wundert es da, dass unzählige Verkehrsteilnehmer egoistisch nur an ihr Fortkommen denken. Angriffslustiges Verhalten ist einer „Spiegel“-Studie zufolge besonders bei 35- bis 50-jährigen, gut verdienenden Männern verbreitet. Viele aus dieser Risikogruppe fahren Autos mit „eingebauter Vorfahrt“. Das erklärt, dass sich die Hälfte aller Autofahrer von BMW-Lenkern, ein Drittel von Mercedes-Fahrern und ein Viertel von Audi-Piloten bedroht fühlen, so eine aktuelle Studie des ADAC. Wie man überhaupt feststellen kann, dass die Gemeinschaft der Automobilisten die immer tiefer werdende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich abbildet. Hier Hunderte Pferdestärken starke und immens schnelle Boliden, dort der schwächliche Kleinstwagen des Rentners oder die Rostlaube des Zeitarbeiters. Völlig unterschiedliche Fahrweisen und Geschwindigkeiten sind die Folge.
Freie Bürger fordern freie Fahrt – das war schon 1974 die falsche Parole. Seitdem ist der Verkehr viel dichter geworden, die Leistung der Motoren deutlich gestiegen. Höchste Zeit, dass unsere Politiker wahr machen, was sie uns gerne versprechen: die Schwachen schützen. Die gibt es auch auf unseren Straßen.