Flüchtlinge“ ist das Wort des Jahres 2015. Angela Merkels „Wir schaffen das“ hat es immerhin noch auf Platz zehn geschafft.
Dass „Flüchtlinge“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt wurde, überrascht nicht. Das Wort steht für 2015 wie kein anderes. Um es herum wabern viele Worte von extrem unterschiedlicher Bedeutung: Weltkrise, Syrien, IS, Terror, Obergrenze, Sozialstaat, Asylrecht, Willkommenskultur, Extremismus, Pegida, Islam, Integration.
Jedes dieser Worte kann Angst machen. Dem einen dies, dem anderen jenes. Über eine Million Flüchtlinge in Deutschland erzeugen bei vielen Menschen Unbehagen. Können wir sie alle integrieren? Werden sie unsere Gesellschaft verändern? Wird die Konkurrenz größer? Bekommen die Extremen Zulauf? Kommt der Terror auch in unser Land? Sind die Flüchtlinge von heute die Bewohner der Armutsviertel von morgen?
Alles Ängste, die man ernst nehmen muss, Angst lässt sich nicht verdrängen. Angst ist selten konkret, noch seltener konstruktiv. Sie entsteht, wenn es Menschen unheimlich wird. Und es entstehen nicht selten apokalyptische Szenarien, die von Populisten und Radikalen an die Wand gemalt werden. Natürlich sind uns die Terroristen unheimlich, die in Paris wahllos um sich geschossen haben. Unheimlich sind manchem aber auch die vielen muslimischen Männer, die vor den Terroristen zu uns flüchten.
Flucht und Terror haben dieselben Ursachen: Perspektivlosigkeit, ökonomische Not, Krieg, religiöse Unterdrückung und Hunger.
Millionen von Menschen haben sich auf den Weg gemacht, sie entfliehen den Mörderbanden des IS, sie entfliehen den Bomben des Assad-Regimes, den Unterdrückern in Eritrea, der Anarchie in Somalia und Afghanistan oder den Lagern in der Türkei und Jordanien. Sie suchen Sicherheit, Stabilität und eine Perspektive.
Krieg und Gewalt sind nur unmittelbare Fluchtauslöser. Die tatsächlichen Ursachen gehen tiefer und deuten auf zivilisatorische Umbrüche in der islamischen Welt und in weiten Teilen Afrikas hin. Und keiner kann heute wissen, ob sich am Ende Modernität und Aufklärung oder religiöser Fanatismus und Abgrenzung durchsetzen werden.
Die Flüchtlinge aber tragen das Unglück der Welt vor unsere Haustüre. Und weil sie so viele sind, haben sie uns überfordert. Zunächst die Europäische Union. Mit beispielloser Naivität hat sie ein System geschaffen, das den geografischen Kern Europas als Fluchtziel ausschließt. Weil er von einem Ring sicherer Aufnahmestaaten umgeben wird. Die Antwort dieser Staaten hieß „durchwinken“, auch ein Wort des Jahres 2015. Angela Merkel hat dieses bürokratische Hirngespinst beendet, als es längst gescheitert war. Europa hat in der Krise seine Einheit aufgegeben. Das war es, was für Chaos sorgte, nicht die positive Grundhaltung der Kanzlerin.
Auch Deutschland hat teilweise die Kontrolle verloren und ist noch dabei, sie wieder zu gewinnen. Niemand weiß, ob unsere Gesellschaft diese Last tragen kann, ohne sich zu radikalisieren. Denn wir haben es mit einer weltweiten und tiefgreifenden Krise zu tun. Wer dies ignoriert, wer glaubt, sich dem entziehen zu können, wer meint, einfache Antworten auf komplizierte Zusammenhänge zu haben, der wird nur umso schneller von dieser Krise verschlungen.