Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Meinung
Icon Pfeil nach unten
Leitartikel
Icon Pfeil nach unten

Leitartikel: Ungedeckter Wechsel auf die Zukunft

Leitartikel

Leitartikel: Ungedeckter Wechsel auf die Zukunft

    • |
    • |
    Leitartikel: Ungedeckter Wechsel auf die Zukunft
    Leitartikel: Ungedeckter Wechsel auf die Zukunft

    Von Lohnsklaven ist dieser Tage die Rede, von Hunger- und Billiglöhnern, von Menschen, die so schlecht bezahlt werden, dass sie von Arbeit nicht leben können. Das hört man leider nicht aus einem Billiglohnland. Diese Etiketten werden Arbeitern im Wirtschaftswunderland Deutschland angeheftet. Das einer zu großen Arbeitnehmerfreundlichkeit unverdächtige „Wall Street Journal“ schrieb vor kurzem: „Indem sie sich selbst aushungern, hungern die Deutschen auch ihre Nachbarn aus.“

    Zwei unangenehme Thesen: Erstens kannibalisieren die Deutschen ihren Arbeitsmarkt, zweitens mit negativen Folgen auch für andere. Dabei wird im Wahlkampf insbesondere von der FDP behauptet, Deutschland gehe es so gut, dass es als Lokomotive für Europa tauge und Vollbeschäftigung möglich sei. Das ist doch positiv! In der Tat standen noch nie so viele Menschen in der Bundesrepublik in Beschäftigung wie heute. Das ist doch positiv!

    Blickt man allerdings ins Kleingedruckte der Statistik, stellt man fest, dass die Qualität der Jobs abgenommen hat. Minijobs, Zeit- und Leiharbeit, Werksverträge, Aufstocker – mehr Beschäftigte, aber der Arbeitsmarkt in Deutschland spaltet sich zunehmend in eine Zwei- bis Dreiklassengesellschaft auf. So gibt es laut Zahlen der Bundesagentur etwa sieben Millionen Minijobber, rund eine Million Leiharbeiter, bei den Werksverträgen gibt es keine Zahlen, sie laufen unter Sachkosten. Aber auch so bewegt sich die Menge der schlechter bezahlten Arbeitsverhältnisse stark auf zehn Millionen zu. Bei insgesamt 36 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein stattlicher Anteil.

    Reguläre Tarifarbeitsplätze werden seit den Hartz-Arbeitsmarktreformen vor etwa einem Jahrzehnt weniger. Sie wurden erst verdrängt von der Zeitarbeit, die jetzt durch Mindestlöhne und strengere Richtlinien unattraktiver ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Kreativität bei Sparjobs erlahmt ist. Im Gegenteil, offenbar nehmen die anders gedachten Werksverträge in der Realität oft ihren Platz ein.

    Nimmt man die illegalen Verhältnisse an deutschen Schlachthöfen aus, wo osteuropäische Lohnsklaven für drei Euro malochen und davon Miete für schäbigste Unterkünfte zahlen, bleiben genügend kritikwürdige Modelle. Erst kürzlich gerieten Dax-Konzerne wie Daimler und BMW in Verruf. Der Vorwurf: Werksvertragler arbeiten Seite an Seite mit Tarifbeschäftigten, sie ersetzten reguläre Jobs für wenig Geld.

    Leidtragende sind häufig ungelernte, jüngere Arbeitnehmer, die in den 90er Jahren keinen Ausbildungsplatz bekamen. Das ist die Kehrseite vom Gejammer über Fachkräftemangel. Man hat Tausende vor 15 Jahren nicht ausgebildet. Nimmt man die geburtenstarken Jahrgänge aus den 50er und 60er Jahren dazu, die auf die Rente zusteuern, müssen möglichst viele möglichst lange arbeiten – nötig ist die Rente mit 67. Sozialreformen werden seit langem nicht mehr als Dienst am Menschen, sondern als Dienst am System gedacht.

    Selbst wenn man die billigen Jobs nicht zu hart kritisiert, weil sie den Aufschwung ermöglichen, leistet sich Deutschland einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Denn Aufstocker und Billiglöhner von heute sind die Altersarmen von morgen, die weiter staatlich durchgefüttert werden müssen. Insofern hat das Wall Street Journal recht: Die Deutschen hungern sich aus. Langsam, aber sicher – damit es nicht schon heute so wehtut.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden