Eine neue Studie erschüttert den Glauben an die Märkte. Die Bamberger Ökonomin Nora Szech und ihr Bonner Kollege Armin Falk haben in einem Experiment nachgewiesen, dass sich Marktteilnehmer unmoralischer verhalten als wenn sie alleine handeln müssen. In zwei Gruppen – eine davon als Markt inszeniert – mussten sich Studenten entweder für Geld oder für das Überleben einer Maus entscheiden. Das Ergebnis: 75 Prozent der Marktteilnehmer entschieden sich für das Geld. Ohne den Schutz des Marktes ließen wesentlich mehr Teilnehmer die Mäuse überleben; nicht einmal jeder Zweite (45 Prozent) nahm hingegen das angebotene Geld. Wir sprachen mit Nora Szech über ihre Studie.
Frage: Was ist das Leben einer Maus wert?
Nora Szech: Unsere Studie zeigt, dass das Leben einer Maus einen ganz unterschiedlichen Wert hat. Außerhalb eines Marktes ist das Leben einer Maus nach unserer Studie jedenfalls deutlich mehr wert, als wenn ein Teilnehmer seine Maus innerhalb eines Marktes „verkauft“ hat.
Welche negativen Eigenschaften weckt die Anonymität des Marktes in uns?
Szech: Da ist zum einem die geteilte Schuld: Wenn viele Marktteilnehmer etwas quasi gemeinsam entscheiden, ist die Schuld – in unserem Beispiel das Töten der Maus – für den Einzelnen eben nicht mehr so groß. Ein weiterer Mechanismus gerade in größeren Märkten könnte sein, dass für mich das Beispiel all der anderen zu einer Art sozialer Norm wird. Ich weiß zwar, dass es nicht richtig ist, eine Maus zu töten, wenn ich aber sehe, dass es sehr viele andere dennoch akzeptieren, dann ist es für mich natürlich auch einfacher, es zu tun.
Mit Ihrem Experiment weisen Sie nach, dass sich Menschen in der Anonymität des Marktes von ihren moralischen Maßstäben verabschieden.
Szech: Das ist offensichtlich der Fall, Märkte untergraben die Moral, da sind die Ergebnisse unserer Studie doch sehr klar. Es ist übrigens auffallend, dass viele Teilnehmer, die sich in der Marktsituation für das Töten der Mäuse entschieden haben, das hinterher bereuen.
Die haben ein schlechtes Gewissen bekommen. . .
Szech: Ja, genau. Es scheint wirklich so zu sein, dass in der Marktsituation die moralischen Maßstäbe hinter materialistischen Überlegungen zurücktreten – und erst später wieder zur Geltung kommen. Das dürfte überhaupt eine der Hauptmerkmale von Märkten sein: Man ist plötzlich völlig auf den Preis fokussiert und denkt, na das ist ja ein gutes Geschäft. Alles andere will man in diesem Moment gar nicht sehen oder wissen. In ganz vielen Märkten geht es nur um den Preis.
In unserem Alltag sind ja die oft schrecklichen Bedingungen unter denen etwa ein T-Shirt entsteht sehr weit weg, etwa in einer Fabrik in Bangladesch. Wir bekommen das ja gar nicht zu sehen.
Szech: Richtig. Alleine dadurch, dass jemand bei uns mir das T-Shirt schön verpackt und in netter Atmosphäre anbietet, wird es sozusagen reingewaschen. Und ich sehe zudem ja, dass andere auch dieses T-Shirt kaufen – dann muss das ja in Ordnung sein. Zudem gibt es, gerade im Textilbereich, wenige Alternativen. Es fehlen uns dafür die Labels oder Zertifikate, die den Konsumenten über die Hintergründe aufklären.
Es heißt ja in der Werbung immer: Soundsoviele Käufer können nicht irren? Funktioniert bei Märkten die Schwarmintelligenz demnach also nicht?
Szech: Scheint so zu sein. Wir waren uns anfangs gar nicht sicher, welches Ergebnis bei unserer Studie herauskommt. Das soziale Lernen müsste ja in Märkten grundsätzlich auch in die andere Richtung funktionieren: Ich sehe etwa, dass andere das T-Shirt nicht kaufen oder die Maus leben lassen – also mache ich das auch.
Sind Märkte eigentlich immer schlecht für die Moral?
Szech: Die Gefahr besteht. Es wäre auf jeden Fall wichtig, sich weiter mit dem Thema zu befassen. Unsere Studie ist meines Wissen tatsächlich die erste, die zeigt, dass Märkte kausalen Einfluss auf unser Verhalten haben. Dass alleine diese Marktinstitution aus quasi denselben Leuten anders handelnde Menschen macht, deren Werte plötzlich in Vergessenheit geraten. Das wollen wir nun weiter untersuchen.
Wir leben in einer extrem arbeitsteiligen Welt. Viele Dinge des Alltags werden ja gar nicht mehr in Deutschland hergestellt, die Globalisierung hat uns vollkommen anonyme Märkte beschert. Gibt es da überhaupt einen Ausweg?
Szech: Ich glaube, dass wir in Europa grundsätzlich eine gute Einstellung dazu haben, dass Marktwirtschaft auch sozial und moralisch integer sein sollte. Doch wir müssen auf der Hut sein: Diese Mechanismen, im Markt Schuld zu teilen und sich als Einzelner nicht mehr verantwortlich zu fühlen, weil man in der Masse mitschwimmt, die machen es definitiv leichter, gierig zu sein. Hier muss man gegensteuern.
Hat sich eigentlich nach Erscheinen Ihrer Studie schon mal ein Politiker bei Ihnen gemeldet?
Szech: Leider noch nicht. Ich würde mich aber sehr darüber freuen. Denn es ist ja ein wichtiges Thema, dem sich die Politik annehmen sollte.
Wie sind die Reaktionen aus Ihrer Zunft, den Wirtschaftswissenschaften?
Szech: Wir haben bislang fast nur positive Reaktionen. Es gibt ja in der Ökonomie sehr unterschiedliche Meinungen zu Märkten. Und uns ging es ja auch gar nicht darum, Märkte generell zu verbannen. Märkte können durchaus auch gute Institutionen sein. Aber klar: Wir haben da schon eine sehr kritische Studie vorgelegt.
Müssen die Ökonomen nun umdenken?
Szech: Ich denke, dass wir als Ökonomen uns dieser Frage wieder deutlich stärker stellen müssen. Neu ist der Ansatz ja nicht: Schon Adam Smith (einer der Begründer der modernen Wirtschaftslehre; Anmerk. d. Red.) hat sich zum Thema Markt und Moral geäußert. Aber wir haben uns in den vergangenen Jahrzehnten vielleicht zu wenig damit befasst.
Geld oder Leben für die Mäuse – warum musste es ein so drastisches Experiment sein?
Szech: Gut, dass Sie das fragen. Wir hatten so die Chance, zu zeigen, dass der Markt sehr drastisch ist. Und das mit Mäusen, die als überzählige Mäuse aus Tierversuchen ja sowieso getötet worden wären. Dank unseres Experiments – und der Teilnehmer, die sich gegen das Geld entschieden haben – sind sogar einige Hundert Mäuse quasi vor dem Tod gerettet worden.
Nora Szech
In ihrer Dissertation an der Uni Bonn befasste sich Nora Szech (33) bereits mit Konsumentenverhalten und Marktversagen. Seit 2012 hat die Professorin den Lehrstuhl für Industrieökonomik an der Uni Bamberg inne. Die beschriebene Märkte-Studie wurde jetzt im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht. FOTO: Privat