In der Türkei werden unliebsame Reporter mit Terroristen gleichgesetzt. In Ungarn und Polen gibt es staatliche Eingriffe in die Pressefreiheit. In Frankreich wurden 2015 zehn Redaktionsmitglieder der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ erschossen. In Deutschland werden Journalisten auf offener Straße als „Lügenpresse“ beschimpft und bedroht. Kanzlerin Angela Merkel ließ Ermittlungen gegen den Satiriker Jan Böhmermann zu. Ist die Pressefreiheit in Deutschland in Gefahr? Wir sprachen darüber mit Dr. Kim Otto, Professor für Wirtschaftsjournalismus an der Universität Würzburg.
Frage: Ist das Grundrecht der freien Presse in Deutschland in Gefahr?
Kim Otto:
Nein, die Pressefreiheit ist bei uns nicht in Gefahr. Aber die Entscheidung der Kanzlerin hat keine Haltung. Sie hätte das Begehren von Erdogan zurückweisen müssen. Stattdessen kuscht sie und versteckt sich hinter der Justiz. Sie will den Paragrafen 103 abschaffen, auf den sie sich jetzt beruft. Das ist nicht schlüssig. Die Kanzlerin will sich nicht mit der Regierung Erdogan anlegen. Dabei sind Presse- und Kunstfreiheit ein hohes Gut. Die Bundeskanzlerin hat ein falsches Signal gesetzt und sich hinter dem Rechtsstaatsprinzip versteckt.
Wird hier – ähnlich wie beim Vorwurf der „Lügenpresse“, dem Unwort des Jahres 2014 –, der Wert der freien Presse herabgesetzt?
Otto: Ja, die Presse- und Kunstfreiheit haben Verfassungsrang und Grundrechte dürfen nicht – auch wenn es nur symbolisch ist – für eine gute Beziehung zu einer autokratischen Regierung wie der von Erdogan geopfert werden. Mit dem Begriff „Lügenpresse“ wird den etablierten Medien unterstellt, ihre Berichterstattung sei politisch gefärbt und von oben gesteuert. „Lügenpresse“ ist das Symbol für ein gestörtes Verhältnis der Bürger zu den Massenmedien und damit auch direkt zur Mediendemokratie. Natürlich ist das problematisch; aber von einer neuen generellen Vertrauenskrise kann auf lange Sicht keine Rede sein.
Woran machen Sie das fest?
Otto: Eurostat, das statistische Amt der Europäischen Union, erhebt seit 16 Jahren in allen Mitgliedsstaaten das Vertrauen in die Medien in einer repräsentativen Umfrage. Meine Mitarbeiter und ich haben an der Universität Würzburg die Zahlen ausgewertet und festgestellt, dass nur in sieben von 16 Jahren das Vertrauen in die Presse größer war als 2015.
Doch die Mehrheit der 1000 Befragten misstraute der Presse im Jahr 2015?
Otto: Im Herbst 2015 vertrauten nur 46 Prozent der Befragten der Presse, 49 Prozent misstrauten ihr. Das Misstrauen überwiegt. Ein Jahr zuvor sah das noch anders aus. 2014 haben nur 45 Prozent der Presse misstraut und 47 Prozent ihr vertraut. Der Vertrauensverlust ist aber kein Grund, Alarm zu schlagen.
Warum nicht?
Otto: Im Jahr 2000 vertrauten im Vergleich zu 2015 viel weniger, genauer gesagt, nur 30 Prozent der Befragten der Presse. Ferner lag 2015 der Anteil derjenigen, die der Presse in Deutschland vertrauen, sogar drei Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt, beim Fernsehen sogar sechs, beim Radio fünf Prozent.
Wer misstraut den Medien am meisten?
Otto: Gerade bei den Menschen in der politischen Mitte genießt die Presse großes Vertrauen. Allerdings ist das Vertrauen bei Menschen, die sich im politischen Spektrum als sehr links und sehr rechts einordnen, gering.Dass dieser Personenkreis von „Lügenpresse“ spricht, ist ein bekanntes Muster: Populisten und Extremisten sehen in der Presse oft „Systemmedien“, die das gegenwärtige „kapitalistische politische System“ stützen. Rund 40 Prozent der Pegida-Anhänger stufen sich als rechts ein. Umfragen zeigen, dass mehr als jeder Fünfte von ihnen deutliche Kritik an der Arbeit von Journalisten übt. Sie werfen der Presse Tendenzberichterstattung vor.
Hängt das Misstrauen in die Presse auch vom Alter und Einkommen ab?
Otto: Bekannt ist, dass mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage generell das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen, also auch die Medien, sinkt. Bei den 15- bis 24-Jährigen vertrauen 49,2 Prozent der Presse. Der Wert steigert sich leicht bis zu 53,2 Prozent bei den 45- bis 54-Jährigen und fällt dann wieder auf 49,4 Prozent bei den Befragten, die älter als 65 Jahre sind.
Gibt es Unterschiede zwischen Großstadt und ländlichem Raum?
Otto: In Städten mit zwischen 5 000 und 100 000 Einwohnen herrscht mehrheitlich Misstrauen gegenüber der Presse. In Großstädten mit über 100 000 Einwohnern ist das Vertrauen größer.
Und in Ostdeutschland?
Otto: In den ostdeutschen Bundesländern ist das Vertrauen in die Medien sehr gering. Die Menschen in Ostdeutschland sind bekanntlich mit dem Funktionieren der Demokratie grundsätzlich unzufriedener als die Menschen in Westdeutschland. Auch das Vertrauen in Institutionen ist geringer und damit auch in die Medien.
Welcher Journalist hat die besseren Karten: jemand vom Radio, Fernsehen, Internet oder der gedruckten Presse?
Otto: Im Herbst 2015 vertrauten nur 46 Prozent der Befragten der gedruckten Presse. Dem Fernsehen vertrauten noch 55 Prozent und dem Radio 60 Prozent.
Misstrauen gegenüber der Presse ist die eine Seite, tätliche Angriffe auf Journalisten bei Pegida-Demos die andere . . .
Otto: Ich war selbst auf einigen Demos, und die Stimmung dort ist wirklich bedrückend. Dennoch gibt es keinen Grund für Journalisten, hysterisch zu werden. Das Medienvertrauen hat nicht abgenommen. Auch wenn über das Internet die Meinung derjenigen, die den „Lügenpresse“-Vorwurf erheben, direkt auf die Redaktionen einprasselt. Journalisten sollten sich vor Augen führen, dass das eine Minderheit ist.
Die Main-Post veranstaltete einen Hate-Slam zu dem Thema. Was halten Sie von der Veranstaltung?
Otto: Ich finde es persönlich sehr gut, wenn Journalisten mit Lesern diskutieren und so Missverständnisse abgebaut werden.
Ist das Vertrauen in die Presse wichtig?
Otto: Ja, die Presse und der Rundfunk sind konstitutiv für unsere Demokratie: In einer Mediendemokratie findet der politische Diskurs über die Massenmedien statt. Wenn das Vertrauen nicht mehr gegeben ist, funktioniert Demokratie nicht mehr.
Hat der Fall Böhmermann die öffentliche Meinung beeinflusst?
Otto: Über Böhmermann haben wir plötzlich einen breiten Diskurs über Presse- und Kunstfreiheit. Seitdem die Strafanträge gestellt sind, stellen sich relevante öffentliche Personen sowie die Mehrheit der Bevölkerung auf seine Seite. Immerhin halten zwei Drittel der Deutschen die Entscheidung der Kanzlerin für falsch. Das kann unser Land nur bereichern. Um das Image der Journalisten steht es also gar nicht so schlecht.
Laut Reporter ohne Grenzen liegt Deutschland aber nur im Mittelfeld bei der Einhaltung der Pressefreiheit.
Otto: Reporter ohne Grenzen bezieht in ihren Index zur Pressfreiheit auch Gewalt von privaten Personen gegen Journalisten ein. In Deutschland flossen dabei Übergriffe der Pegida-Anhänger gegen Journalisten ein. Wenn Pegida-Anhänger Journalisten angehen, ist das nicht schön, aber dadurch ist die Pressefreiheit in Deutschland nicht bedroht. Problematisch wird es, wenn Pressefreiheit durch den Staat eingegrenzt wird. Und das ist leider auch in Deutschland der Fall. Unter investigativen Journalisten ist es bekannt, dass Bundesnachrichtendienste bei gewissen Themen (Beispiel Export von Informations- und Kommunikationstechnik) Journalisten abhören. 2014 haben in Bayern zwei Beamte des LKA Gespräche mit Journalisten des Bayerischen Rundfunks protokolliert. In diesem Fall ist die Pressfreiheit bedroht.