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SAMSTAGSBRIEF: Wie wollen Sie in Zukunft leben, Farid Bang und Kollegah?

SAMSTAGSBRIEF

Wie wollen Sie in Zukunft leben, Farid Bang und Kollegah?

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    Kollegah und Farid Bang erhalten den Echo in der Kategorie „Hip-Hop/Urban National”.
    Kollegah und Farid Bang erhalten den Echo in der Kategorie „Hip-Hop/Urban National”. Foto: Jörg Carstensen

    Der Battle-Rap ist eine Kunstform, deren oberstes Ziel die größtmögliche Grenzüberschreitung ist. Das haben Sie, Farid Bang, und Sie, Kollegah, seit der Echo-Verleihung auf alle Fälle erreicht. Künstler, Journalisten, Politiker und Musikfans gegen sich aufzubringen, ist in diesem Kontext ein Erfolg.

    Die in den vergangenen Tagen häufig zitierten Textzeilen, die Ihnen die Antisemitismus-Vorwürfe eingebracht haben, kannte ich vorher nicht. Dass Erniedrigung und Beleidigung zu Ihrer Form des Rap gehören, weiß ich. Allerdings gibt es für mich klare Grenzen. Mit Ihren Sätzen „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ und „Mache wieder mal 'nen Holocaust, komm an mit dem Molotow“ haben Sie diese Grenzen meilenweit überschritten.

    Auschwitz und der Holocaust sind untrennbar mit unfassbarem Leid und schrecklichen Bildern verbunden: Gaskammern, abgemagerte, verhungerte, gepeinigte, gefolterte, ermordete Menschen. Mit diesen Bildern zu spielen, wie Sie es tun, ist für mich unerträglich und jede Empörung der letzten Tage wert. Allerdings verbietet sich für mich auch eine Zensur Ihrer Texte. In einem Land, in dem das möglich wäre, möchte ich nicht leben. Die Freiheit der Kunst und der Meinung sind unschätzbare Werte. Deshalb muss ich Ihre Textzeilen aushalten.

    Nicht aushalten kann ich, dass Ihre Zeilen etwas deutlich machen, das weit über Ihre Musik hinaus geht: Rassistische, antisemitische Äußerungen sind in der gern zitierten Mitte der Gesellschaft angekommen. Deswegen sind mir Diskussionen um die Zukunft des Echo ziemlich egal. Das inflationäre Zurückgeben des Echos von Künstlern, die sich damit ein zweites Mal Applaus abholen, übrigens auch.

    Ich höre Musik, seit ich denken kann. Klassik genauso wie Techno, Punk und sehr gerne auch Rap und Hiphop. Rap-Texte können brutal, verletzend und geschmacklos sein. Eine Musikrichtung, die im amerikanischen Ghetto entstanden ist, um sich statt bei Schlägereien lieber auf musikalischer Ebene zu messen, kann halt mit Gänseblümchen-Texten nichts anfangen.

    Provokation, Grenzen überschreiten gehören nicht nur zum Rap, sondern zur Musik überhaupt. Johann Sebastian Bach galt zu seiner Zeit als musikalischer Rebell, Mozart genauso. Elvis Presleys hüftschwingender Rock'n'Roll und auch die Beatles verstörten zu Beginn ihrer Karrieren jede Menge Eltern. Verdienst der musikalischen Provokationen war es, die gesellschaftlichen Entwicklungen widerzuspiegeln und manches Mal auch voranzutreiben. Die Songs von Bob Dylan und Joan Baez zum Beispiel gehörten zum Soundtrack der 68er-Bewegung. Die Punkmusik brüllte in den Jahren um 1976 allen die Zukunftsangst und Hoffnungslosigkeit vieler englischer Jugendlicher entgegen. Wer jemals die wütende soziale und politische Kritik in den Songs der berühmt-berüchtigten Sex Pistols gehört hat, wird nicht anzweifeln, dass Punk direkt aus der Mitte der Gesellschaft kam.

    Und ja, auch der US-Rapper Kendrick Lamar provoziert – und hat damit eine gesellschaftspolitische Funktion. Sie haben sicher mitbekommen, dass er gerade den berühmte Pulitzer-Preis in der Sparte Musik gewonnen hat – weil er mit seiner Musik die Komplexität des modernen afroamerikanischen Lebens einfange. Ein großer Moment für den Rap und den Hiphop. Lamar ist übrigens der erste Preisträger, der weder aus der Klassik, noch aus dem Jazz stammt.

    Musik erreicht Menschen unmittelbar. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Farid Bang und Kollegah, Ihre Musik gehört zum Leben von hunderttausenden junger Menschen in einer besonders sensiblen Lebensphase. Man sucht Halt, Orientierung, Vorbilder. Auf das Weltbild dieser Jugendlichen haben Sie mit Ihrer Musik wahrscheinlich mehr Einfluss als Lehrer und häufig auch Eltern. Daraus entsteht für Sie Verantwortung.

    Was sich aus dieser Verantwortung heraus entwickeln könnte? Zum Beispiel Veranstaltungen für Jugendliche, die über all das Leid aufklären, das Auschwitz und der Holocaust unfassbar vielen Menschen gebracht hat. Oder Workshops über die Hintergründe von Rassismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit, ein P-Seminar über die Entstehung des Rap und seiner ganz eigenen Sprache. Alles denkbar.

    Ich weiß nicht, ob Sie, Farid Bang, und ob Sie, Kollegah, schon Pläne in diese Richtung gemacht haben. Ich warte gespannt auf Ihre Vorschläge. Denn dann wüsste ich, in was für einer Gesellschaft Sie in Zukunft leben wollen. Ich jedenfalls will ein Leben, das von Toleranz, einem friedlichen Miteinander und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Ich will ein Leben, in dem niemand wegen seiner Hautfarbe, Religion, Herkunft, Geschlecht oder Sexualität ausgegrenzt wird. Und dazu will ich Musik hören, die genau das auch nicht macht.

    Mit freundlichen Grüßen

    Andrea Czygan, Redakteurin

    Einer bekommt Post! – Der „Samstagsbrief“ Jede Woche lesen Sie auf der Meinungsseite am Wochenende unseren „Samstagsbrief“. Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Figur des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An eine Person, der wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert wird der „Samstagsbrief“ sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der „Samstagsbrief“ ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen Samstagsbriefen hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den Samstagsbrief zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.

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