Der deutsche Journalist Peter Scholl-Latour gilt seit den 50er Jahren als kluger Beobachter und ausgewiesener Kenner der Weltpolitik. Den Trend zur Islamisierung afrikanischer und asiatischer Staaten hat er als einer der Ersten vorhergesehen. Wir haben mit Scholl-Latour in die geopolitische Zukunft geblickt.
Frage: Wie wird es im Irak der Zukunft aussehen?
Peter Scholl-Latour: Nicht viel anders als heute. Denn der wirkliche Konflikt im Irak wird ja gar nicht zwischen Amerika und den Irakern ausgetragen. Sondern zwischen den Sunniten und den Schiiten, den zwei großen Glaubensrichtungen des Islam. Dieser Konflikt besteht praktisch seit dem Tod des Propheten – also seit über 1300 Jahren.
Ein Glaubenskonflikt, der im Prinzip nicht lösbar ist?
Scholl-Latour: Wir müssen leider davon ausgehen, dass die meisten Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nicht lösbar sind. Wenn sie überhaupt gelöst werden sollten, dann müssen sie von innen gelöst werden, von den Völkern, die sie betreffen. Es ist eine Illusion, zu meinen, dass wir von Amerika oder von Europa aus entscheidende Durchbrüche in diesen Krisenregionen erzielen könnten. Im Irak erweist sich, dass die Amerikaner, die derzeit ihre Rückzugspläne ausarbeiten und gerne ein Mindestmaß an Stabilität hinterlassen würden, im Grunde überhaupt keine Kontrolle mehr über die politische Entwicklung dort haben.
Gilt dies auch für Afghanistan, das die Amerikaner im Oktober 2001 von den Taliban befreit haben?
Scholl-Latour: Die Präsenz der Amerikaner in Afghanistan ist unsinnig. Die Präsenz der gesamten NATO in Afghanistan ist unsinnig. Das ist ein Krieg, der nicht gewonnen werden kann; und ein Krieg, den man nicht gewinnt, den verliert man am Ende auch. Die Russen, die Afghanistan von 1979 bis 1989 besetzt hielten, haben nie eine Schlacht verloren gegen die Afghanen, nicht einmal ein großes Gefecht. Aber nach zehn Jahren haben sie erkannt, dass es keinen Sinn hat, dort zu bleiben.
Aus Ihrer Sicht ist das Engagement der Deutschen in Afghanistan also falsch.
Scholl–Latour: Wir dürfen nicht den Fehler begehen, den die Amerikaner zur Zeit begehen: Wir dürfen uns nicht außenpolitisch verzetteln. Die Amerikaner haben immerhin noch die Entschuldigung, dass sie eine Weltmacht sind. Wir nicht. Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hat vor kurzem vorausgesagt, dass das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan zehn Jahre dauern könnte. Dazu sage ich: Die Afghanen halten das zehn Jahre durch. Wir nicht. Wir haben dringendere Probleme! Direkt vor unserer Haustüre!
Sie sprechen den Balkan an.
Scholl-Latour: Im Balkan liegt zukünftiges Konfliktpotential.
Glauben Sie nicht, dass sich im Zuge der EU-Osterweiterung die Probleme im Balkan von alleine lösen?
Scholl-Latour: Der Streit um die Unabhängigkeit des Kosovo wird weiter schwelen. Und die Bundeswehr im Kosovo ist ja nicht damit beschäftigt, eine Ordnung herzustellen, sondern die paar dort lebenden Serben zu schützen, was zwar verdienstvoll ist, aber auf die Dauer unsinnig. Genauso ist das sehr willkürlich geteilte Bosnien ein Provisorium und damit ein Problem für die Zukunft. Leider lässt sich schon jetzt vorhersehen, dass die 27 EU-Länder sich nicht auf eine einheitliche Balkan-Politik werden einigen können. Denn insbesondere einige der neu hinzugekommenen EU-Staaten orientieren sich stark an den USA und nehmen ihre Direktiven lieber von Washington als von Brüssel entgegen.
Muss sich Europa den USA gegenüber in Zukunft anders positionieren?
Scholl-Latour: Bis zum Ende des kalten Krieges waren Europas strategische Interessen mit denen der USA identisch, da gab es kaum Differenzen. Nach wie vor ist die atlantische Allianz, die NATO, notwendig. Aber die Organisation des Bündnisses, die ausschließlich ausgerichtet war auf die Abwehr eines sowjetischen Großangriffs, ist völlig überholt. Und jetzt werden wir durch die amerikanische globale Politik in Interessenskonflikte hineingezogen, die uns gar nichts angehen. In der Zukunft müssen wir strategische Entscheidungen treffen, die sich von denen der Amerikaner unterscheiden. Das ist keine Frage von Antiamerikanismus. Das ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes.
Wo sollten sich die Europäer denn anders verhalten als die Amerikaner?
Scholl–Latour: Wir dürfen nicht islamischen Ländern unsere westliche Vorstellung von Demokratie aufzwingen. Gerade hier sollten sich die Europäer zurückhalten. Denken Sie an Nordafrika! In den nächsten zwanzig Jahren wird Nordafrika zu einem Unruheherd werden. Algerien, das ja schon einen entsetzlichen Bürgerkrieg hinter sich hat, wird nicht ruhig bleiben. Marokko wird in den Sog irgendeiner islamistischen Bewegung geraten. In Tunesien ist dies ja schon der Fall. Und Ägyptens Staatspräsident Hosni Mubarak wird auch nicht in alle Ewigkeit regieren können. Die Europäer sollten sich hier nicht einmischen.
Wird denn Ihrer Meinung nach die Terrorgefahr in den nächsten Jahren steigen?
Scholl-Latour: Ja. Man muss realistisch sein. In zwanzig Jahren werden etliche neue Länder, darunter der Iran und Saudi-Arabien, aber auch lateinamerikanische Staaten, Atommächte geworden sein. Da kann eine neue Bedrohung entstehen – bis hin zu dem Alptraum-Szenario, bei dem religiöse Fanatiker mit Atomwaffen politische Entscheidungen zu erzwingen drohen. Es wäre sogar vorstellbar, dass Terroristen drohen, die Trinkwasserversorgung einer ganzen Stadt lahmzulegen. Mit Polonium zum Beispiel...
Zur Person
Peter Scholl-Latour, geboren 1924 in Bochum, berichtete in seinem Journalistenleben praktisch von allen Krisen- und Kriegsschauplätzen der Welt. Er hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht.