Ein Leser teilt mir seinen Ärger darüber mit, dass ein Redakteur Wochen vor der Kommunalwahl eine Prognose darüber veröffentlicht hat, wie am Wahlsonntag die Entscheidung über ein kommunales Amt wahrscheinlich ausgehen werde. Grundlage dafür war dem Redakteur das bisherige Abstimmungsverhalten bei Wahlen vor Ort. Er hob somit namentlich die Kandidaten als Favoriten hervor, die deshalb wohl in die Stichwahl um dieses Amt kommen würden.
Befürchtungen eines Lesers
Solche journalistischen Vorausblicke auf die Kommunalwahlen gab es in den vergangenen Wochen häufig. Auch deshalb beschäftige ich mich damit.
Der verärgerte Leser folgert, dass der Redakteur mit der Prognose der Wählerschaft suggeriere, welche/n Kandidaten*in sie anzukreuzen habe. Denn andernfalls, so die Lesart des Kritikers, könnte man meinen, sei die Stimme vertan.
Demgegenüber bezeichnete der kritische Leser die Wahlberichterstattung von ARD und ZDF als verantwortungsbewusst und vorbildlich, weil die vor dem Ende des Urnengangs am Sonntag, 18 Uhr, niemals Prognosen senden. Allerdings bringt der Leser mit seinem Vergleich etwas durcheinander. Denn auch die Sender müssen sich damit dem Bundeswahlgesetz (Paragraph 32, Abs. 2) beugen, das eine Veröffentlichungssperre über das Wahlverhalten am Wahltag (an diesem Tag ermittelt aus Umfragen) vorgibt. Die betrifft alle Medien (auch Soziale Netzwerke) ab dem Zeitpunkt der ersten Stimmabgabe bis zur Schließung der Wahllokale. Vorher freilich dürfen Prognosen abgegeben werden. Das nutzen auch die öffentlich-rechtlichen Sender, etwa mit der Sonntagsfrage.
Forderungen des Pressekodex
Veröffentlicht diese Redaktion vor der gesetzlichen Sperre Umfrageergebnisse, dann muss sie dazu die Zahl der Befragten, den Zeitpunkt der Befragung, die Auftraggeber und die Fragestellung nennen. Das fordert der Pressekodex in Richtlinie 2.1.. Grundlage für die vom Leser kritisierte Prognose waren lediglich bisherige Ergebnisse bei Kommunalwahlen. Darüber waren sie für die Leserschaft gut einzuordnen. Damit sollte keine Entscheidung suggeriert oder gar diktiert werden.
Wie Prognosen wirken, darüber gibt es Hypothesen von überregionalen Wahlen. Sie sind kaum empirisch belegt. Eine lautet, dass man sich gerne zu Gunsten der Partei entscheidet, die in Umfragen die Nase vorn hat. Demgegenüber sagt eine andere, dass sich Wähler aus Trotz und Mitleid der Partei anschließen, die in Umfragen zurückliegt.
Die Motivation
Dann gibt es noch die Mobilisierungshypothese die für eine bessere Wahlbeteiligung sprechen kann. Das heißt, wird ein knappes Ergebnis vorausgesagt, kann das motivieren, auf jeden Fall wählen zu gehen. Den Besuch im Wahllokal sollten Sie am Sonntag, 15. März, nicht versäumen, wenn Sie nicht schon per Briefwahl abgestimmt haben. Vielleicht waren und sind Ihnen beim Ausfüllen der Wahlzettel die umfangreichen Erklärungen dieser Redaktion zur Kommunalwahl 2020 in Bayern eine Hilfe. Mehr dazu unter: https://www.mainpost.de/Kommunalwahlen
Ausführliche Erklärung zu "Beeinflussen Prognosen die Wahlentscheidung" auf MDR-Wissen.
Frühere Leseranwalt-Kolumnen zu Wahlen:
2008: "Warmduscher und Wackelpudding als satirischer Seitenhieb"
2012: "Meine Wahrheit, deine Wahrheit und die Wahrheit, die Journalisten nicht gepachtet haben"
2013: "Kandidaten vor der Wahl im Portrait: Überschriften sollten eine klare Linie erkennen lassen"
2014: "Besonders im Wahlkampf schlägt Parteigängern und Interessenvertretern die Stunde"
2014: "Politische Leserbriefe von Wahl-Kandidaten werden nicht veröffentlicht"
2018: "Aufgeklebte Werbung einer Partei"
2018: "Parteigänger und ihre Vorstellungen"
2018: "Transparenz für das redaktionelle Konzept"
2018: "Heiße Tage, heiße Nächte"
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de