Was nachweislich wahr und was als Tatsache gesichert ist, das dürfen Medien immer berichten. Nein, nicht ganz. Es gibt gesetzliche Schranken für die Pressefreiheit: Sie schützen die Jugend, die Intim- und Privatsphäre, überhaupt alle Persönlichkeitsrechte. Über Gesetze hinaus müssen Journalisten natürlich beachten, zu was sie der Pressekodex ethisch verpflichtet.
Journalistische Leitlinien: Geschlechter werden selbstverständlich gleich behandelt
Auch redaktionelle Grundsätze schaffen zuweilen Grenzfälle. So gehört als zentrale Grundlage zu den journalistischen Leitlinien dieser Redaktion unter Punkt 6a die "diskriminierungssensible Sprache". Die Gleichbehandlung der Geschlechter war eigentlich von je her eine selbstverständliche Verpflichtung im Journalismus, die allerdings nie ganz nachvollzogen worden ist. Freilich fällt die Bewertung im Einzelfall auch nicht immer leicht.
Zu einem aktuellen Beispiel mag sich jede und jeder auch selbst eine Meinung bilden. Unter dem Titel "Ein Minister unter Hochspannung" wurde in der Zeitung vom 4. Februar 2023 über den Besuch von Wirtschaftsminister Robert Habeck in Stockholm berichtet. Er traf auf seiner Mission für den Standort Deutschland dort als wichtigste Person seine Kollegin, die schwedische Wirtschaftsministerin Ebba Busch. Auch die Deutsche Presseagentur berichtete darüber.
Korrespondenten-Bericht aus Stockholm: Die Beschreibung der Ministerin
Hier geht es jedoch um den eigenen Bericht in der Zeitung. Über Frau Busch lesen wir darin als erstes: "Die Vorsitzende der Christdemokraten trägt einen knallroten Hosenanzug. Die oberen Ränder ihrer Fingernägel hat sie in hauchdünnen Strichen dunkel lackiert, als wären es Krallen." Der traditionelle Ansatz der Politik, die sie vertrete, ist danach skizziert. Das entkräftet etwas den möglichen Vorwurf, die Ministerin würde alleine auf Äußerlichkeiten reduziert. Die Passage lässt noch vermuten, die knallige Farbe ihres Hosenanzuges solle vielleicht in einen Kontrast zu ihrer traditionellen Politik gesetzt werden.
Hosenanzug und Krallen: Eine Leserin fragt, was ich davon halte
Eine Leserin hat kritisch gefragt, was ich von der Hosenanzug- und Krallen-Passage in dem Bericht halte. Sticht doch diese Darstellung einer Ministerin als bunter Punkt aus dem eher nüchternen Beitrag heraus. Äußere Umstände sind darin sonst nur eine graue Produktionshalle und fiepende Maschinen. Und über die wenigen Männer ist in dem Beitrag alleine in politischen Zusammenhängen berichtet.
Der Korrespondent antwortet noch aus Stockholm kurz auf meine entsprechende Frage zu Hosenanzug und Fingernägeln: "Ich habe einfach die Kleidung und die Maniküre Frau Buschs beschrieben. Genauso stand sie vor uns in Stockholm." Daran hatte ich nicht gezweifelt. Aber damit will der Autor wohl unterstreichen: Was Tatsachen sind, berichte ich.
Ein Rollenbild ist weder Wahrheit noch Tatsache
Der Leserin erkläre ich, dass ich die überraschende Passage, die als solche im politischen Kontext unerklärt geblieben ist, in dieser Nachricht für unglücklich und missverständlich halte. Es fehlt ein sachlicher Zusammenhang. Dass der hergestellt wird, würde ich auch dann erwarten, wenn das Äußere eines männlichen Politikers ebenfalls eingeflossen wäre. Ein solches fehlt aber im Beitrag aus Schweden und wird für Männer ohnehin eher selten geliefert. So schafft man einem Vorurteil Platz: Aussehen kommt bei Frauen vor Inhalt. Bleibt hier ein weibliches Rollenbild als Botschaft aus Schweden, eine Ministerin mit Hosenanzug? Das wäre dann aber weder Wahrheit noch Tatsache, sondern nur Klischee.
Hinweis: Wenn ich einen Autoren-Namen nicht nenne, dann vor allem deshalb, weil sich Leseranwalt-Beiträge auf die Sache konzentrieren. Dazu ist hier kein Name notwendig.
Anton Sahlender, Leseranwalt
siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Frühere ergänzende Leseranwalt-Kolumnen:
2010: "Nackte Pappmaschee-Kanzlerin ist kein Sündenfall"
2010: "Nachträgliche Schönheitsreparaturen an hässlichen Bildern wichtiger Politiker"
2013: "Auch über ihre rote Handtasche kann uns eine Bundesministerin näher kommen"
2018: "Ungleichgewicht in Zahlen"