Diese Zeitung nehme Bewegungen nicht ernst, die unsere Demokratie missachten. Mit diesem und vergleichbaren Vorwürfen reagieren einzelne Leserinnen und Leser auf Berichte und Wertungen, die nicht ihren Gefallen finden und die auch nicht der Mehrheitsmeinung entsprechen.
Sätze, die einem Leser missfallen
Am 13. Dezember sei über eine der als "Spaziergänge" bezeichneten Demos in Schweinfurt (Überschrift online: „'Spaziergang' gegen Corona-Maßnahmen in Schweinfurt: Warum die Stimmung kippte") emotional auf Bild-Niveau berichtet worden, wertet ein "sepele" auf mainpost.de. Er zitiert Sätze, die sein Missfallen unterstreichen sollen: "Ein Mit-Siebziger, grauer Schnauzbar, Brille und Hut freute sich sichtlich über die lautstarken Sprechchöre: 'Genau so muss es sein'. Andere waren regelrecht ergriffen, mit ihren Freunden und Bekannten gemeinsam gegen die aus ihrer Sicht falschen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung protestieren zu können."
Frage zu einem Leitartikel: Welcher Teufel hat die Redaktion geritten?
Zum Leitartikel in der Zeitungsausgabe vom 20. Dezember ("Die Impfpflicht ist keine Lösung", siehe Repro am Textende) fragt mich Leser K. L., welcher Teufel die Redaktion da bei der Veröffentlichung geritten habe. Der Leitartikel sei nicht richtungsweisend, sondern bestenfalls für ein Pro und Contra geeignet. Dass sich diese Zeitung darüber zur Lieblingslektüre von Querdenkern und Impfgegnern entwickeln möchte, davon gehe er trotz dieses Beitrages, der auch weitere Kritiken ausgelöst hat, nicht aus.
Muss er auch nicht. Gegenreaktionen sind wie eine Bestätigung dafür. So findet ein Leser am 27. Dezember "schlicht widerlich" wie der Staat mit Zweifeln der Bürger und ihrer Kritik umgehe. Das gelinge mit Unterstützung von "Möchtegern-Redakteuren", die genüsslich berichten würden, wie schnell die deutsche Justiz plötzlich im Stande sei, zu Urteilen zu kommen, für die sie sonst Monate und Jahre brauche.
Artikel auf dem aktuellen Stand der Forschung
Ich glaube nicht, dass ich für die journalistische Linie dieses Mediums Beispiele benennen muss. Die wurde in eigener Sache auch aktuell erklärt. Es wären zu viele Artikel, die ich aufzählen müsste, weil sie sich in Sachen Impfung und Corona-Maßnahmen vorwiegend auf den aktuellen Stand der Forschung und auf geltendes Recht stützen. Dabei wird oft das sogenannte "false balance", das Ungleichgewicht, vermieden.
Der Autor des Beitrags vom 13. Dezember macht sich jene sympathisch anmutende Schilderung eines Mit-Siebzigers bei der Demo in Schweinfurt aus meiner Sicht auch nicht zu eigen. Er öffnet mit dieser Darstellung aber beispielhaft den Blick darauf, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten nicht über einen Kamm zu scheren sind.
Einzelne Artikel sind kein Maßstab
"Ich denke, es ist wichtig, auch über Gegenargumente einer Impfpflicht zu diskutieren", antwortet mir eine verantwortliche Redakteurin auf die Kritik am Contra-Leitartikel vom 20. Dezember. Ja, das ist es. Am 23. Dezember erschien auch ein Pro-Leitartikel: "Die Impfpflicht für alle spaltet nicht, sie führt zusammen!". Ein Zeichen dafür, dass es meist ohnehin zu kurz greift, ein Medium, das als gedruckte Zeitung jährlich rund 300 Mal erscheint, an einzelnen Artikeln messen zu wollen.
Nicht zu übersehen ist darüber, dass der eine oder andere einzelne Beitrag für manche Leser angesichts eigener ganz anderer Ansicht persönlich zur Zerreißprobe werden kann. Weiterführend ist, wenn man die besteht. Noch besser, man lässt es erst gar nicht zur Zerreißprobe kommen, sondern erträgt die abgelehnte Haltung nüchtern als Information und bemüht sich mit der Reaktion darauf aktiv um ein erträgliches Gesprächsklima.
Was besonders für Redaktionen gilt
Offen für Ansichten von außerhalb des derzeit gut begründeten Mainstreams für Impfen und Corona-Maßnahmen zu bleiben, das ist nämlich auf für Redaktionen wichtig. So schließe ich mit einer Erkenntnis des Journalistik-Professors Stefan Russ-Mohl, entnommen aus dem von ihm mitherausgegebenen Buch mit dem zutreffenden Titel „Zerreißproben“ (von Halem-Verlag/2021): Der Diskurs, die Demokratie und eine offene Gesellschaft brauchen Liberalität, um sich gedeihlich entwickeln zu können. Besonders gelte das für Redaktionen, die diese Gesellschaft mit Nachrichten versorgen. In diesem Buch, das will ich nicht verschweigen, musste auch ich einige Bewertungen ertragen, die ich missbillige.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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