LESERANWALT

Leseranwalt: Was einem sehr guten Artikel aus Russland zur Perfektion fehlt

Leserinnen und Leser kritisierten eine Analyse zu Gewalt in Russland. Unser Leseranwalt erklärt, wieso diese Redaktion einen solchen Beitrag veröffentlicht.
Polizei geht in Moskau gegen Demonstranten vor. Symbolbild für eine verinnerlichte Gewalt, die sich in Russland durch alle Bereich des Lebens zieht? Diese Erklärung einer Korrespondentin aus Moskau rief Leserkritik hervor.
Foto: AFP via Getty Images | Polizei geht in Moskau gegen Demonstranten vor. Symbolbild für eine verinnerlichte Gewalt, die sich in Russland durch alle Bereich des Lebens zieht?

Wieder einmal wünsche ich, der Journalismus möge sich von der Wissenschaft zumindest etwas mehr Quellenklarheit abschauen. Grund sind Kritiken in Leserbriefen, erschienen in der Zeitung am Samstag, 16. Juli. Sie betreffen einen Artikel vom 9. Juli mit dem Titel: "Wenn die Gewalt zur Norm wird", von Inna Hartwich. Die Journalistin erklärt über Russland, was der Titel sagt.

Wer ist die Autorin und was qualifiziert sie?

Der Beitrag bewertet (mit einer wesentlichen Ausnahme) pauschal und umfangreich russische Menschen. Man kann sich beim Lesen fragen, wer ist die Autorin und was qualifiziert sie dazu? Fehlende Antworten darauf tragen wohl zu den als Reaktion darauf erschienenen Leserkritiken bei. Ein Leser schreibt: Der Artikel strotze vor unerträglichen Pauschalierungen von "Gesellschaft" und "Menschen". Ohne Beleg werde behauptet, "die Menschen" in Russland seien überzeugt, dass Überleben nur durch Einsatz von Gewalt funktioniere.

Eindrücke einer Korrespondentin ohne empirischen Anspruch

Szenen, geschildert aus russischen Alltag und Beurteilungen legen solche Kritik am Beitrag nahe. Heißt es doch, "eine verinnerlichte Gewalt" ziehe sich durch alle Bereiche des Lebens. Gräueltaten der russischen Armee seien Teil der Norm russischer Gewaltapparate. Die in einem Nebensatz angesprochene Ausnahme: Auch in Russland würden die bei vielen Menschen für unfassbares Entsetzen sorgen. Und Hinweise auf Demonstrationen zeigen, dass nicht alle Menschen in Russland der beschriebenen Norm unterliegen. Fazit: Eine Autorin teilt ihre gesammelten Eindrücke als Korrespondentin mit, aber das ohne empirischen Anspruch.

Konkret moniert dazu ein aufmerksamer Leser: Einerseits stehe da, dass es keine verlässliche Zahlen zur häuslichen Gewalt gebe; "andererseits sollen Umfragen (wessen? Wann? Validität?) ergeben haben, mindestens ein Fünftel der russischen Frauen habe durch Partner schon Gewalt erlebt". Was denn nun?

Wieso veröffentlicht das eine verantwortungsvolle Redaktion?

Eine Leserin spricht von einer als Bericht getarnten "Kriegspropaganda" und "Dämonisierung des Feindes". Ein Leser bezweifelt, dass das Wissen der Korrespondentin das gesamte Russland zutreffen kann. Es sei denn, sie habe das ganze Land bereist. Eine Frau fragt, wieso eine verantwortungsvolle und sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe bewusste Redaktion so etwas veröffentliche? Das ruft mich auf den Plan.

Ich vermisse: Quellenklarheit, Einordnung und Transparenz

Quellenklarheit, Einordnung und Transparenz vermisse nämlich auch ich. Gerade die braucht es in Kriegszeiten. Sie unterscheidet seriösen Journalismus von ideologischer Propaganda. So ein hintergründiger und spannender Artikel muss beileibe nicht zur Wissenschaft werden, aber etwas mehr Reflexion ist wünschenswert. Reflexion entnimmt man einem Interview des Südkurier mit Inna Hartwich. Sie erklärt unter anderem, dass die Arbeit in Russland emotional einfach sehr schwierig sei, weil man nicht wisse, mit wem man noch über was sprechen könne. Wörtlich: "In letzter Zeit merke ich, dass sich so ein Schweigen übers Land gelegt hat, die Leute sagen lieber gar nichts."

Wissenswert zur Kompetenz der Korrespondentin

Ich jedenfalls bezweifle kaum, dass die Schilderungen der Korrespondentin realistisch sind. Wer nämlich über Google oder gleich aus der Zeitung erfährt, dass Hartwich seit 2018 in Moskau lebt, Russisch und Ethnologie auch in St. Petersburg studiert hat und nach ihrer journalistischen Ausbildung schon einmal aus Moskau, später aus Peking und Berlin berichtete, wird ihr einiges an Kompetenz zubilligen. Einschätzungen wie die hier besprochene, die werden von Korrespondenten vor Ort erwartet. Deshalb die Veröffentlichung des Beitrages durch die verantwortliche Redaktion. Aber erst Hintergrundwissen dazu macht die Information komplett. Das zu liefern, ist Aufgabe der Redaktion, die darüber verfügt. Das kann einem sehr guten Artikel zur Perfektion verhelfen.

Kein Bericht, sondern Analyse

Im Impressum dieser Zeitung steht Hartwich nicht, denn ihr Beitrag ist dem Angebot der Mediengruppe Pressedruck (Augsburger Allgemeine) entnommen. Mit deren Redaktionen kooperiert die Main-Post bekanntlich eng. Und es ist hier von keinem Bericht die Rede, sondern von der Analyse, einer Korrespondentin. Als solche ist sie mehr eine Expertenmeinung als eine Nachricht. Solche einordnenden Botschaften entsprechenden Artikeln gleich mitzugeben, ist aufschlussreiche Transparenz. Die erhöht Nachrichtenkompetenz.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Beitrag aus Main-Post vom 9.7.22. Leser haben mit Kritik reagiert.
Foto: Repro Sahlender | Beitrag aus Main-Post vom 9.7.22. Leser haben mit Kritik reagiert.

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