LESERANWALT

Leseranwalt: Wenn heftige Leserkritik in Redaktionen auf der Strecke bleibt

Wie ist der redaktionelle Umgang mit heftigen Vorwürfen in Leserstimmen? Der Leseranwalt erklärt, welche rechtlichen und publizistischen Grundsätze eine Rolle spielen.
Zur Prüfung von Leserbriefen werden Redaktionen nur selten Medienrechtler einschalten oder in professionellen Handbüchern wie in dem hier abgebildeten wälzen. 
Foto: Sahlender | Zur Prüfung von Leserbriefen werden Redaktionen nur selten Medienrechtler einschalten oder in professionellen Handbüchern wie in dem hier abgebildeten wälzen. 

Der Absender eines Leserbriefs, der nach Entscheidung einer Lokalredaktion nicht veröffentlicht wurde, hat diese Redaktion in Sachen Unterdrückung von Meinungsfreiheit auf eine Stufe mit Russland, Weißrussland und China gestellt. Das lässt mich das Ausmaß seiner Verärgerung über die abgelehnte Veröffentlichung ahnen.

Rechtliche Unsicherheiten

Dennoch versuche ich den Leserbriefschreiber zu verstehen und viele andere, denen es ebenso ergeht wie ihm. Denn langjährige Beobachtung sagt mir, allzu heftige Vorwürfe in Leserzuschriften können rechtliche Unsicherheiten und danach Ablehnung in Redaktionen auslösen. Denn wirklich rechtswidrige Veröffentlichungen verbieten sich, nicht nur weil es in den eigenen Leitlinien dieser Redaktion (Teil II., Punkt 6) steht. Das Medium möchte auch nicht für Inhalte von Leserbriefen als ihr Verbreiter haftbar gemacht werden.

Grundsätze der Verbreiterhaftung

Doch was heißt das: Nach Grundsätzen der Verbreiterhaftung ist das Medium nämlich nur eingeschränkt verantwortlich. Äußerungen in Briefen und Zuschriften müssen nicht generell geprüft werden. Der Bundesgerichtshof hat anerkannt, dass die Anforderungen an Redaktionen dabei nicht überspannt werden dürfen. Medien sind demokratischer Markt der Meinungen. Dabei nehmen sie berechtigte Interessen wahr (§ 193 StGb.). Da will man es für freie Meinungsäußerungen nicht zu schwer machen. Deshalb wird die Haftung des Mediums in der Regel nur bei schweren Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten Dritter bejaht (ständ. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 27. Mai 1986 – VI ZR 169/85 –, Rn. 27, juris). Und die sollten in der Regel schnell erkennbar sein.

Wichtig: Regelmäßige Distanzierung

Es besteht keine grundsätzliche redaktionelle Verpflichtung, Behauptungen in Leserbriefen auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Denn Leserbriefe gelten als Meinungsäußerungen eines Dritten, die sich das Medium nicht zu eigen macht, sondern die es lediglich verbreitet. Allerdings muss sich die Redaktion regelmäßig per Hinweis von den in Leserstimmen geäußerten Meinungen distanzieren. Für deren aufwändige Prüfung fehlt meist in der Regel die Zeit. So wird man in Zweifelsfällen lieber mal auf die Veröffentlichung einer Zuschrift verzichten.

Vorwurf rechtswidriger Handlung

Redaktionen können sich im Alltag nicht ständig Rat bei Medienrechtlern holen, so wie ich es für diese Erklärungen hier getan habe. Sie wissen aber, Leserbriefe gelten grundsätzlich als Meinungsbeiträge. Dann kann darin schon mal behauptet werden (so unser Absender), "Stadträte samt Verwaltung hätten nicht selten rechtswidrig gehandelt". Vergleichbar kommentieren ja mitunter Journalisten selbst. Ein Vorwurf der Rechtswidrigkeit kann auch ohne gerichtliche Bestätigung im politischen Meinungskampf eine Wertung bleiben. Denn besonders da ist scharfe Kritik zulässig.

Publizistische Grundsätze

Warum werden Briefe oder Kommentare mit heftigen Vorwürfen dann nicht nur in der Zeitung überhaupt abgelehnt, wenn Platzgründe mal keine Rolle spielen? Da kommen publizistische Grundsätze, die auch der Pressekodex (Richtlinie 2.6.) vorgibt, ins Spiel. Darauf kann man sich berufen. Denn damit sind mehr Faktoren als geltendes Recht angesprochen. So kann es sein, dass Zuschriften, die eine Diskussion im lokalen Medium und dadurch in Stadt und Land, vergiften könnten, lieber vermieden werden. Dass eine solche redaktionelle Befürchtung auch mal unnötig sein kann, lässt sich nicht ausschließen. Ebenso kann mal eine fragwürdige oder falsche Behauptung als zugespitzte Meinung durchrutschen. 

Doch wie gesagt: Bei der Möglichkeit einer Rechtsverletzung wird man sich in Redaktionen besser gegen die Verbreitung einer Leserzuschrift entscheiden. Da ist dann auch das Verständnis der engagiertesten Absender gefragt. 

Unabhängigkeit als der Pressefreiheit

Und um auf den verfehlten Vergleich mit Weißrussland, Russland oder China zurückzukommen. Sicher ist: In unserem Land kann fast jede Meinung überall geäußert werden. Aber Medien müssen über ihre redaktionellen Inhalte, also auch über Leserbriefe, unabhängig entscheiden können. Das ist Teil der Pressefreiheit, die allen Menschen zugute kommt.

Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.

Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:

2012: "Lesern ist in ihren Briefen mehr erlaubt, als Journalisten in ihren Artikeln"

2017: "Falsche Tatsachen sollten auch in Nutzer-Kommentaren nicht verbreitet werden"

2018: "Leserbriefe stärken den demokratischen Diskurs"

2019: "Falsche Tatsache im Leserbrief"

2019: "Das Missverständnis mit der Zensur"

Januar 2021: "Aufpassen, wenn Wut die Feder geführt hat"

Januar 2021: "Störungen des demokratischen Diskurses"

Juli 2021: "Was bei Leserbrief-Kürzungen entscheidend ist"

Oktober 2021: "Auch Ärztinnen und Ärzten darf 'auf die Schlipse getreten' werden"

 
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