LESERANWALT

Leseranwalt: Wie es zum 860-fachen Fake auf Facebook  kam

Nachts nicht mehr raus auf den eigenen Balkon? Wie ein missverständlicher Vermerk auf der Titelseite zum gefundenen Fressen für Gegner der Ausgangssperre geworden ist.
'Nein' zur Ausgangssperre: Wo gilt sie? Das Symboldbild stammt von einer Demonstration in diesem April in Köln. 
Foto: Henning Kaiser, dpa | "Nein" zur Ausgangssperre: Wo gilt sie? Das Symboldbild stammt von einer Demonstration in diesem April in Köln. 

Kleine Unklarheit, große Wirkung. Ausgelöst hat sie ein Satz auf der Titelseite der gedruckten Main-Post vom 15. April. Unter der Überschrift „Aktuelle Ausgangssperren in Unterfranken“ war da wörtlich zu lesen: „In bayerischen Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen dauerhaft eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 überschritten wird, ist nach geltendem Recht von 22 Uhr bis 5 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung (und dem dazugehörigen Garten oder Balkon) untersagt.“

Ungeschickt umformuliert

Erst nach mehrfachem Lesen begriff auch ich, was nicht gemeint ist: Es wird ausdrücklich nicht verboten, sich im eigenen Garten oder auf dem Balkon aufzuhalten.

Besser hätte es also so heißen müssen: „… der Aufenthalt außerhalb der Wohnung, des dazugehörigen Gartens oder Balkons ist untersagt“. Stattdessen war hier ungeschickt umformuliert, was das Bayerische Staatsministerium des Inneren korrekt so mitgeteilt hatte: „Hinweis: Vom Begriff der Wohnung erfasst sind auch privat genutzte Gärten, Terrassen und Balkone.“

Das „und“ in der Klammer legt beim Lesen des Zeitungstextes das Verbot auch für Garten und Balkon nahe. Das hätte klargestellt werden müssen. Wurde es aber nicht, wohl weil die missverständliche Formulierung nicht gleich erkannt worden ist.

Die Verbreitung eines Verbots

Ganz anders im Internet. Dort wurde das angebliche Verbot für den Aufenthalt auf dem eigenen Balkon oder im Garten zum gefundenen Fressen für Gegner der Ausgangssperre. „Worte verbinden nur, wo unsere Wellenlängen längst übereinstimmen“, hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) mal sehr treffend festgehalten. Wohl weil die Wellenlänge für Corona-Maßnahmen viele Menschen nicht mehr erreicht, erschlossen sie sich nicht selbst, dass kein Verbot für Garten oder Balkon gemeint sein kann.

So wurde, noch bevor der Fake auch im Netz enttarnt war, zwischen 16. und 20. April rund 860 mal auf Facebook der irritierende Zeitungstext kopiert, geteilt und als Verbot weiter verbreitet. So teilt es „Agence France-Presse“ (AFP) in einem ihrer regelmäßigen Faktenchecks mit. Zur Verdeutlichung war auf Facebook stets der zitierte Klammertext samt „untersagt“ farbig herausgehoben.

"Ich strecke den Mittelfinger in die Luft"

Die Nachrichtenagentur AFP berichtet beispielhaft, wie Nutzerinnen und Nutzer dazu in den Facebook-Postings geschimpft haben: "Wenn du dich nach 21 Uhr nicht einmal mehr auf dem eigenen Balkon aufhalten darfst, dann kannst du mit Fug und Recht behaupten, in einer Diktatur zu leben!" Oder: "Hallo, bin im Garten und strecke grade den Mittelfinger in die Luft… (...) Das ist keine Hassrede sondern normaler Menschenverstand und Grundrecht!"

Was lernen Redaktionen daraus? In dem mittlerweile äußerst belastenden Stadium der Pandemie-Bekämpfung müssen nicht nur Regierungsmitglieder Worte auf eine Waagschale legen, die sprichwörtlich der von Apothekern gleicht.

Anton Sahlender, Leseanwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.

Beitrag von der Titelseite der Main-Post vom 15. April 2021 mit der missverständliche Erklärung.
Foto: Repro Sahlender | Beitrag von der Titelseite der Main-Post vom 15. April 2021 mit der missverständliche Erklärung.

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