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Scheurings Wort zum Samstag: Glosse: Schwankende Gestalten

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Scheurings Wort zum Samstag: Glosse: Schwankende Gestalten

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    Alles verändert sich, auch die Sprache. Früher war etwa von Kursschwankungen an der Börse die Rede, und alle wussten, was gemeint war. Heute heißt es, die Aktienmärkte seien „volatil“. Die Vokabel „volatil“ leitet sich vom lateinischen „volatilis“ (fliegend, flüchtig, schnell) her und bedeutet beweglich, schwankend oder veränderlich. Ein Bankchef erklärt, die Bilanz seines Hauses sei „durch das volatile Umfeld beeinflusst“. Das Allensbach-Institut für Demoskopie stellt fest, die Gefühle der Bevölkerung seien „volatil“. Wenn sie das nicht wären, könnte das Umfrage-Institut vermutlich dichtmachen. Ein Kommunikationsforscher erklärt, „die Einstellung der Bürger ist sehr volatil“. Sie ändern also manchmal ihre Meinung, die Bürger? Hätte ich nicht gedacht. Früher wusste man nur, dass die Sonne manchmal nicht scheint und der Wind nicht immer bläst. Heute drückt es ein Energie-Experte so aus: „Wind und Sonne sind volatil.“ Ein Verleger ist gar zu der Erkenntnis gelangt, dass „fast alles volatil ist“. Und ein Schauspieler erklärt, er habe seine Rolle, um der Komplexität des dargestellten Charakters gerecht zu werden, „volatil“ angelegt. Wenn ich so etwas lese, habe ich das Gefühl, ich volatiliere gleich. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“, schrieb Goethe in seinem Drama „Faust“. Hätte der Dichter bereits über unsere moderne Begriffscoolness verfügt, hätte er gewiss nicht von schwankenden, sondern von „volatilen Gestalten“ gesprochen. Vermutlich wird es jetzt nicht mehr lange dauern, bis Betrunkene – statt wankend nach Hause zu schwanken – volatil auf ihr Ziel hin zusteuern.

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