Zwei Männer führen ihn in einen versteckten Keller. Sie reißen ihm die Kleider vom Leib und schlagen ihn mit einem Kupferkabel nieder. Wieder und wieder zerren sie ihn empor, spannen ihn auf eine Kiste und peitschen ihn wund und blutig. Fünfzehn Minuten dauert die Tortur, dann taumelt er gegen eine Betonmauer und bricht besinnungslos zusammen.
Klaus Schnellenkamps Stimme zittert. Fast scheint es, als würde er den schrecklichen Moment noch einmal erleben. Damals war er acht Jahre alt. Heute ist er 32. Und redet. Von jahrzehntelanger physischer und psychischer Folter. Von Schwerstarbeit. Von seinem immer währenden Hunger nach Gerechtigkeit. "Ich weiß nicht, wie ich diese Qualen ertragen habe, aber ich habe immer daran geglaubt, dass irgendwann die Erlösung kommt."
Schnellenkamp wurde in der Colonia Dignidad (heute: Villa Baviera) im Süden Chiles geboren - mitten hinein in das Reich des Deutschen Paul Schäfer, der Anfang der 60er Jahre in der Nähe von Parral einen Staat im Staate aufgebaut hatte. Mit Bunkern und Kommandozentralen. Mit einem Flugplatz und modernsten Warn- und Überwachungssystemen. Einen Staat, auf dem der Schatten von sexuell missbrauchten Kindern, gefolterten Menschen und verschwundenen linksgerichteten Bürgern lastet.
Von alldem ahnt das Kind Schnellenkamp nichts.
Begegnungen, die Angst machen
Schon als Siebenjähriger muss er im Sommer unter brennender Sonne auf dem Acker stehen und Unkraut jäten. Ohne einen Schluck Wasser und ohne Essen - von Stechfliegen umringt. Wenn er nur einmal aufschaut, folgt der Peitschenschlag. Weihnachten gibt es für ihn nicht. Geburtstag auch nicht. Wer seine Eltern sind, und dass er noch sechs Geschwister hat, erfährt er mit fünfzehn Jahren. Es ist ein Schock. Ihm wird plötzlich klar, dass sein eigener Vater, Kurt Schnellenkamp - ein ranghoher Getreuer Schäfers - zugesehen hat, wie er verprügelt wurde. Seine Stimme wird leiser. Sie klingt traurig. Und seine Mutter? "Sie hat mich immer geliebt, doch zeigen durfte sie es mir lange Zeit nicht."
Die Begegnungen mit Paul Schäfer machen ihm besonders Angst. Angst vor dem durchdringenden Blick des Mannes, der in Chile bereits wegen Kindesmissbrauch verurteilt ist. "Immer wieder musste ich mich dagegen wehren, Opfer von Schäfers sexuellem Missbrauch zu werden. Als Strafe bekam ich Prügel und Nahrungsmittelarrest." Wer Freund und Feind ist, weiß er nicht zu unterscheiden. Als er sich in ein Mädchen der Colonia verliebt, wird ihm jeglicher Kontakt zu ihr verboten. Er durchlebt Verzweiflung und Todesangst. Heimlich - oft auf der Toilette - schreibt er Gedichte, verarbeitet darin seine Sehnsüchte und Träume und seine Vaterlandsliebe zum unbekannten Deutschland.
"Mit neun Jahren musste ich einen Aufsatz zum Thema 'Eigenbrödler und Revolutionär' verfassen, sagt er. Er lacht. Es ist ein hoffnungsfrohes Lachen. Vielleicht verdankt er es genau diesem inneren Widerstand, dass er nun endgültig der Colonia Dignidad den Rücken kehrt und Mitte Dezember den Schritt in ein neues Leben wagt. Mit Hilfe der Deutschen Botschaft, der deutsch-chilenischen Industrie- und Handelskammer und anderen Behörden, denen er sein Schicksal anvertraut hat. Sein Weg führt nach Deutschland. Nach München.
Geld und Privatbesitz hat der hochgewachsene blonde Mann kaum. Nur das, was er sich in den letzten zwei Jahren hart erarbeitet hat. "In der Colonia wurden sämtliche Gelder veruntreut, Lohn gab es nicht, auch die Rentengelder steckte Schäfer ein, bezahlte damit seine Staatsintrigen, Rüstungs- und Waffeninvestitionen oder Luxusgüter für den Eigenbedarf."
"Statt eines Stacheldrahts existiert nun eine unsichtbare Mauer"
Klaus Schnellenkamp über die Villa Baviera
Die Mehrheit der etwa 200 Menschen, die heute noch in der Villa Baviera leben, verurteilen ihn für seinen Entschluss, ein neues Leben zu beginnen, sagt er. "Zu groß ist der pseudoreligiöse Glaube an das System. Statt eines Stacheldrahts existiert nun eine unsichtbare Mauer." Doch Schuld weist er ihnen nicht zu: "Die meisten sind wie ich nur Opfer." Sein Vater, der wie Paul Schäfer und der Kolonie-Arzt Hartmut Hopp im Gefängnis in Santiago auf sein Urteil wartet, will ihn sprechen. Ihn zum Bleiben bewegen. Seine Mutter auch, doch bei ihr, das weiß Schnellenkamp "überwiegt die Liebe." Aufgeben wird er nicht. Zu viel Mut hat er schon bewiesen, zu viel erreicht.
Auf einem neuen Weg
Nachdem er sich nach dem Abtauchen Schäfers bis zum Abitur durchgearbeitet hatte, begann er ein Wirtschaftsstudium an der Fernuniversität Hagen. Anfang 2004 überzeugte er die derzeitige Führungsriege von seinem Vorhaben, eine Lehre zum Industriekaufmann am deutsch-chilenischen Institut Insalco in Santiago zu beginnen. Diese Ausbildung wird er in Kürze abschließen. Dann soll die Reise in ein Vaterland folgen, das er noch nie gesehen hat. In München, so hofft der junge Mann, sollen sich zwei seiner sehnlichsten Träume erfüllen: Eine politische Laufbahn und eine sich liebende Familie. Mit Wehmut sieht er dem Abschied von seiner chilenischen Freundin Vanessa entgegen, dem einzigen Menschen "dem ich jemals richtig vertrauen konnte".
Auch wenn viele Mitglieder der Villa Baviera meinen, durch seine "Flucht" werde Gott ihn in der Hölle enden lassen. Schnellenkamp hat keine Angst. Seine Stimme klingt laut und klar: "Ich werde nie mehr in der Hölle landen, denn da komme ich gerade her."