Einwandererkind, Muslim, aufgewachsen in einem Problemviertel, Schulabbrecher, Krimineller, Islamist: Die Karriere von Abdelhamid Abaaoud zu einem der weltweit meistgesuchten Terroristen als Chefplaner der Pariser Anschläge scheint auf den ersten Blick ein Musterbeispiel, wie aus offenbar schlecht integrierten jungen Muslimen gefährliche IS-Killer werden. „Er war ein kleiner Idiot“, der seinen Klassenkameraden und Lehrern lästig fiel oder sich beim Stehlen von Brieftaschen erwischen ließ, sagte ein ehemaliger Schulkamerad im belgischen Boulevardblatt „La Derniere Heure“ über den 28-Jährigen.
Doch selbst im Fall von „Abu Omar der Belgier“, wie sich der im berüchtigten Brüssler Stadtteil Molenbeek aufgewachsene IS-Terrorist selbst nannte, taugen schlichte Erklärmuster nur bedingt: Laut belgischen Zeitungen soll sein Vater, ein aus Marokko stammender Geschäftsinhaber, den Sohn auf eine besonders angesehene Brüsseler Schule geschickt haben.
Terrorforscher warnen davor, in Integrationsproblemen die Hauptursache für die Radikalisierung junger Islamisten zu sehen: „Ich glaube, dass Religion und religiöse Ideologie viel wichtiger sind als soziale Probleme“, betont der Berliner Terrorexperte Guido Steinberg. Es sei zwar eine unbestritten wichtige gesellschaftliche Aufgabe, Integration zu fördern. Aber der Hautauslöser bei jungen Deutschen, sich dem IS als Auslandskämpfer anzuschließen, sei der Reiz der Ideologie der Salafisten. „Es gibt derzeit für viele Jugendliche in der westlichen Welt nichts Cooleres, als Dschihadi zu werden“, sagte Steinberg kürzlich in einem Interview. Der Salafismus sei die weltweit am schnellsten wachsende Protestideologie für rebellische junge Menschen, die sie gegen ihre Eltern und die Gesellschaft wenden, sagt Steinberg.
Zahl der Salafisten steigt
Auch in Deutschland steigt die Zahl der Salafisten, deren Erkennungszeichen meist kurzrasierte Oberlippen- und längere Kinnbärte der Männer sind: Binnen eines Jahres kletterte die Zahl der deutschen Salafisten laut Sicherheitsbehörden von 7000 auf bis zu 10 000. Mehr als 850 seien als Auslandskämpfer nach Syrien oder den Irak gezogen.
Laut einer gemeinsamen Studie der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern wurden die meisten Salafisten im Freundeskreis und in Moscheen radikalisiert. Das Internet samt seiner IS-Propaganda scheint dagegen überschätzt: Es spielte bei knapp 400 untersuchten Fällen von deutschen Auslandskriegern nur in 14 Prozent eine entscheidende Rolle. Deutlich weniger als die Aktion „Lies!“, bei der Salafisten in deutschen Fußgängerzonen Korane verteilten: Sie soll bei fast einem Viertel die Hauptrolle bei der Radikalisierung gespielt haben.
Auffallend ist der außergewöhnlich hohe Anteil von Konvertiten unter den Salafisten: Jeder siebte Islamist, der aus Deutschland in das IS-Gebiet auswanderte, wurde als Christ getauft. Die Bundesrepublikexportierte dabei schlimmere Terroristen, als ins eigene Land kamen: Der 26-jährige Robert B. aus Solingen riss 2014 als Selbstmordattentäter in der Oppositionshochburg Homs 50 Syrer in den Tod, der einstige Pizzabote Philip B. aus Dinslaken sprengte sich Monate später nahe der irakischen Großstadt Mossul in die Luft und tötete 20 Kurden. Beide Konvertiten gehörten zuvor der deutschen Salafistenszene an.
Es gehe den Radikalisierten nicht darum, „Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen“, sagt der deutsch-ägyptische Islamismusforscher Asiem El Difraoui, „sondern man wird gleich Dschihadist“. Die Salafisten mischten Islamismus mit „Elementen europäischer Jugendkultur, mit Schlachthymnen, mit Gesten wie dem gestreckten Zeigefinger, der für die Einheit Gottes stehen soll, aber eher an einen Facebook-Like erinnert“.
Klare Unterschiede
Der Terrorforscher Peter Neumann weist darauf hin, dass sich die Auslandskämpfer in ihrer Herkunft unterscheiden: In Deutschland komme die Mehrheit tatsächlich aus schwierigen Verhältnissen, „häufig ohne Schulabschluss, Ausbildung und Aussicht auf einen guten Job“. In Großbritannien sei die klare Mehrheit dagegen Studenten oder Hochschulabsolventen. „Was sie eint“, so betont Neumann, sei die fehlende Identifikation mit den westlichen Gesellschaften, in denen sie aufgewachsen seien. Die beste Prävention sei deshalb die Botschaft der Gesellschaft: „Man kann ein guter deutscher Staatsbürger und ein guter Muslim sein“, betont Neumann. Zudem müssten die Programme für gefährdete jugendliche besser finanziert und deutlich besser koordiniert werden. Auch der Deutsch-Ägypter El Difraoui betont, man müsse den jungen Muslimen vermitteln, dass die europäischen Gesellschaften, die besten seien, die es gebe und „dass man auch seine Religion hier wesentlich besser leben kann als in Saudi-Arabien oder in Ägypten“.