Wenn Alfred Grosser in seiner Wohnung im ruhigen Südwesten von Paris zum Gespräch empfing, nahm er sich Zeit. Dann hatte der Historiker und Politikwissenschaftler bereits einen Stoß an tagesaktuellen Zeitungen gelesen, sich auf den neuesten Stand gebracht, um nicht nur über die Geschichte Deutschlands und Frankreichs zu sprechen. Er kannte die Details der Debatten, hatte seine eigene, oft zugespitzte Meinung dazu. Gerne provozierte er auch mal, stets mit dem für ihn so typischen verschmitzten Lächeln. In den vergangenen Jahren war es ruhiger um ihn geworden. Kurz nach seinem 99. Geburtstag ist Alfred Grosser am Mittwoch in Paris gestorben. „Die deutsch-französische Gemeinschaft trägt heute Trauer“, sagte der französische Botschafter in Deutschland, François Delattre.
Alfred Grosser war ein Grenzgänger par excellence. Geboren im Jahr 1925 in Frankfurt am Main floh er mit seiner jüdischen Familie Ende 1933 nach Frankreich. Kurz nach der Ankunft in Saint-Germain-en-Laye bei Paris starb der Vater, der Kinderarzt und Wissenschaftler Paul Grosser. Mit der Mutter Lily Grosser erhielten auch die Kinder Margarethe und Alfred 1937 die französische Staatsbürgerschaft. Die Bezeichnung als Deutsch-Franzose lehnte er selbst lebhaft ab: „Nein, ich bin ein Franzose, der Deutschland gut kennt!“
Alfred Grosser galt als Wegbereiter des Élysée-Vertrags
Er galt als einer der intellektuellen Wegbereiter des Élysée-Vertrags, den Kanzler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle im Januar 1963 als Grundlage für eine vertiefte Partnerschaft unterschrieben. Die Vereinbarung sah Grosser als „Höhepunkt einer Entwicklung, nicht als Beginn“. Eine wichtige Rolle hätten zuvor schon andere Staatsmänner wie Jean Monnet und Robert Schuman gespielt, die ersten Austausche ab 1946 stattgefunden.
Als Inhaber eines Lehrstuhls an der Elitehochschule Institut d’Études Politiques de Paris („Sciences Po Paris“) prägte er Generationen von späteren Führungspersönlichkeiten beider Länder, darunter Frankreichs Ex-Premierminister Édouard Philippe. Dieser erzählte, wie er als 18-Jähriger am Abend des 9. November 1989 mit deutschen und französischen Kommilitonen in einem Kurs von Grosser saß, als der Direktor der Uni hereinplatzte und verkündete, dass die Berliner Mauer gefallen sei. Nach einem Moment der verblüfften Stille sprangen alle von ihren Sitzen auf, um zu jubeln und einander zu umarmen, so Philippe. Als wieder etwas Ruhe einkehrte, folgte Grossers Kommentar: „Ich weiß nicht, was mich mehr berührt: Die Tatsache, dass die Mauer gefallen ist oder die Tatsache, dass Sie so darauf reagieren.“
Grosser definierte sich als Atheist von "entspannter Ungläubigkeit"
Sich selbst definierte der Sohn jüdischer Eltern als Atheist von „entspannter Ungläubigkeit“, der dem Christentum nahestehe, auch aufgrund seiner katholischen Ehefrau Anne-Marie, der Mutter seiner vier Söhne. Zur Freiheit seines Denkens gehörte auch die Kritik an der israelischen Politik sowie an der für ihn zu nachsichtigen deutschen Haltung gegenüber Israel, unter anderem in seinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“. An die Regierung Israels, argumentierte er, gelte es dieselben Kriterien anzulegen wie an die eines jedes anderen Staates. 1993 wurde in den Universitäten Sciences Po Paris und Nancy ein „Lehrstuhl Alfred Grosser“ eingerichtet, im Jahr 2009 eine nach ihm benannte Gastprofessur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Auch publizierte er in zahlreichen französischen und deutschen Zeitungen, veröffentlichte Bücher und erhielt etliche Auszeichnungen, vom Großen Verdienstkreuz über die Französische Ehrenlegion bis zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975), dem Theodor-Heuss-Preis (2013) und dem Henri-Nannen-Preis (2014).