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BERLIN: 1000 Seiten deutsche Einigung

BERLIN

1000 Seiten deutsche Einigung

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    Historisches Dokument: Der Einigungsvertrag liegt bei einer Festveranstaltung in einer Vitrine aus.
    Historisches Dokument: Der Einigungsvertrag liegt bei einer Festveranstaltung in einer Vitrine aus. Foto: Foto: Wolfgang kumm, dpa

    Die beiden Unterhändler waren übermüdet und völlig erschöpft. Als Wolfgang Schäuble, Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, und Günther Krause, Staatssekretär beim DDR-Ministerpräsidenten und Vorsitzender der CDU-Fraktion in der DDR-Volkskammer, am 31. August 1990 um 13.15 Uhr im Ost-Berliner Kronprinzenpalais den Einigungsvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichneten, lag ein wahrer Verhandlungsmarathon hinter ihnen.

    Bis 2.14 Uhr in den Morgen war in Bonn um die letzten noch strittigen Punkte gerungen worden, ehe die beiden CDU-Politiker aus West- und Ostdeutschland das mit allen Anhängen über tausend Seiten umfassende Vertragswerk zur „Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands“ paraphieren konnten. Am frühen Morgen stimmten dann die Kabinette in Bonn und Ost-Berlin in Sondersitzungen dem Vertrag zu, mittags schließlich setzten die Verhandlungsführer ihre Unterschrift unter das Dokument.

    Die heftigen innenpolitischen Dispute in der Bundesrepublik wie der noch bestehenden DDR waren im Augenblick der Unterzeichnung vergessen. Lothar de Maiziere, der erste (und letzte) frei gewählte Ministerpräsident der DDR, würdigte das Dokument als eines der bedeutendsten Vertragswerke in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es handle sich um ein „gründlich ausgehandeltes, in konstruktivem Geist gestaltetes Werk, das den Beitritt und die damit zusammenhängenden Fragen in einer ausgewogenen Balance hält“. Von einem „Tag der Freude für alle Deutschen“ sprach Wolfgang Schäuble. Es herrschten „Freude und Zuversicht, dass die staatliche Einheit nicht nur kommt, sondern dass sie auch in geordneten Bahnen verläuft“.

    Drei Wochen später, am 20. September 1990, stimmten der Deutsche Bundestag und die DDR-Volkskammer mit großen Mehrheiten dem Einigungsvertrag zu, am 3. Oktober um 0.00 Uhr traten die fünf neuen Länder, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab, nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik bei. Die DDR hatte sich aufgelöst. Parallel mit den „Zwei-plus-vier-Verhandlungen“, die die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung Deutschlands regelten, liefen ab dem 6.

    Juli 1990 die Verhandlungen um den Einigungsvertrag, bei denen beide deutsche Regierungen die Modalitäten des Beitritts klärten.

    In 45 Artikeln wurden Verfassungsänderungen, Rechtsangleichung, öffentlicher Dienst, Staatshaushalt, Sozialsystem und Kulturförderung geklärt, weitere 19 Kapitel legten für die einzelnen Ressorts Bestimmungen zur Überleitung von Bundesrecht sowie Ausnahmen für fortgeltendes DDR-Recht fest. Obgleich der Vertrag vieles bis ins letzte Detail bestimmte, blieb er in zentralen Fragen wie dem Sitz von Bundestag und Bundesregierung, der Regelung des Abtreibungsparagrafen 218 und der Eigentumsfrage, des Umgangs mit den Stasi-Akten, der Entschädigung der SED-Opfer sowie der Änderung des Grundgesetzes offen und vertagte die Lösung auf später. Das sorgt bis heute immer wieder für Debatten und politischen Ärger, beispielsweise bei den Renten für in der DDR geschiedene Frauen oder der Anerkennung von Diplomen.

    „Es war ein Spiel mit vielen Bällen“, beschrieb Wolfgang Schäuble später die Problematik. Denn Schäuble wie Krause mussten bei ihren Verhandlungen nicht nur die Interessen ihrer Regierungen vertreten, sondern auch innenpolitische Rücksichten nehmen: In Ost-Berlin war die SPD bis 19. August Partner in einer Großen Koalition, in Bonn war sie Oppositionspartei, die bei den Wahlen am 2. Dezember 1990 die Regierung Kohl ablösen wollte. Hinzu kam im Westen das starke Gewicht der Bundestagsfraktionen sowie der elf Bundesländer, die argwöhnisch auf den Erhalt ihrer Besitzstände achteten.

    DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere machte bei der Aufnahme der Verhandlungen am 6. Juli in Ost-Berlin auf das Paradox aufmerksam, dass der Vertrag zwischen zwei Partnern geschlossen werde, die zueinanderfinden wollten, von denen der eine aber dadurch untergehen werde.

    Schäuble seinerseits akzeptierte die Bitte der DDR, „dass sich die Menschen in der DDR in dem vereinten Deutschland wiederfinden wollen“, machte aber aus seiner Position keinen Hehl: „Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt.“

    So wurde bei den Verhandlungen rasch Einigung erzielt, dass mit dem Beitritt das gesamte Rechtssystem der Bundesrepublik auf dem Gebiet der DDR gelten sollte und alte DDR-Bestimmungen nur ausnahmsweise in Kraft bleiben. Im Nachhinein ärgert sich Lothar de Maiziere über die nur äußerst gering ausgeprägte Veränderungsbereitschaft der Westdeutschen. „Deutschland hätte von der DDR ruhig ein bisschen mehr übernehmen können als den grünen Pfeil und das Ampelmännchen.“

    Überschattet wurden die Verhandlungen von der instabilen politischen wie wirtschaftlichen Lage in der DDR, Mitte August brach die Große Koalition in Ost-Berlin auseinander, de Maiziere hatte keine Mehrheit mehr in der Volkskammer, im Lande kam es zu Streiks und Demonstrationen. Im Westen machte sich der beginnende Bundestagswahlkampf bemerkbar, die SPD drohte mit einem Scheitern des Vertrages und erzwang ein Spitzengespräch bei Bundeskanzler Helmut Kohl, der später von einem „Feilschen bis zum Schluss“ sprach.

    Gleichwohl, das große Ziel der Wiedervereinigung war bei allem Dissens unumstritten, Wolfgang Schäubles Taktik, alle Parteien und die Bundesländer in die Verhandlungen mit einzubinden, erwies sich als geschickter Schachzug. Keiner konnte und wollte es sich leisten, den Vertrag letztlich wegen einer Detailfrage platzen zu lassen. Entsprechend groß war die Erleichterung, als in der Nacht vom 30. auf den 31. August die letzten Hürden genommen und die umfangreichen Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden konnten.

    Mit dem „Einigungsvertrag“ wurde die friedliche Revolution in der DDR endgültig in geordnete rechtsstaatliche Bahnen gelenkt. „Einen anderen Weg zur Einheit gab es nicht“, bilanzierte Wolfgang Schäuble später, „wer 1990 gezögert hätte, hätte die Chance der Einheit verspielt – vielleicht für immer.“

    Wissenswertes rund um den Einigungsvertrag

    Als Alternative zum Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes bot sich 1990 auch Artikel 146 des Grundgesetzes an. Dieser sah vor, dass beide deutsche Staaten eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die eine neue Verfassung für das vereinigte Land erarbeitet. Der Weg über Artikel 23 hatte den Vorteil, dass das Grundgesetz sofort auf das Gebiet der DDR ausgedehnt werden konnte und mithilfe eines Staatsvertrags vergleichsweise zügig die praktischen Probleme der Wiedervereinigung gelöst werden konnten.

    Der Einigungsvertrag bestimmte Berlin zur Hauptstadt des vereinigten Deutschlands, ließ aber offen, ob Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin umziehen. Die Entscheidung für Berlin fiel erst ein Jahr später, am 20. Juni 1991. Nach dem Bonn-Berlin-Gesetz behielten sechs Bundesministerien offiziell ihren Erstsitz in der „Bundesstadt“ Bonn, auch wenn alle Ministerinnen und Minister und der gesamte Leitungsstab in Berlin residieren. Noch immer sind rund 38 Prozent aller Ministeriumsarbeitsplätze am Rhein, auch die Flugbereitschaft der Bundeswehr, die die Flüge des Bundespräsidenten, der Kanzlerin und aller Minister durchführt, ist unverändert am Flughafen Köln-Bonn stationiert, was zahllose Leerflüge zur Folge hat.

    Mit dem Einigungsvertrag übernahm die Bundesrepublik das gesamte Vermögen, aber auch alle Schulden der DDR. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft übernahm die im März 1990 von der Regierung Modrow ins Leben gerufene Treuhandanstalt, die am 31. Dezember 1994 ihre Arbeit einstellte. Den Erlösen von rund 60 Milliarden D-Mark standen Ausgaben von mehr als 300 Milliarden Mark gegenüber, von einstmals 4,1 Millionen Arbeitsplätzen waren noch rund 1,5 Millionen vorhanden.

    Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, trat das bis dahin geltende DDR-Recht automatisch außer Kraft, im Gegenzug galten alle Gesetze und Rechtsverordnungen der Bundesrepublik im sogenannten Beitrittsgebiet. Nur in Einzelfällen galten DDR-Bestimmungen in den neuen Ländern als Landesrecht weiter, so im Bestattungsrecht.

    Die letzte Änderung des Einigungsvertrags erfolgte erst im Januar 2013. Unter anderem wurden das „Gesetz über Rechte an eingetragenen Schiffen und Schiffbauwerken“, die „Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser“ und das „Zweite Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte“ neu gefasst. Text: fer

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