Nawal Skolnik hat die Nase voll von Zikaden. „Morgens ist es am schlimmsten“, klagt die 32-Jährige. „Ich gehe zum Rauchen auf den Balkon, und da sind Hunderte. Sie sind widerlich. Wie Kakerlaken, die fliegen können.“ Das Städtchen Lorton im US-Bundesstaat Virginia verfügt über gediegene Wohnviertel mit alten Bäumen; es könnte eine Idylle sein. Aber in diesem Juni dröhnt dort die Luft. Tausende massige Insekten füllen die Hitze mit Balzgeräuschen, einem Knacken, Trommeln und Schaben, das zu betäubendem Summen schwillt. Von Skolniks Scheiben trieft Insektenspray, auf ihrer Terrasse stapeln sich Abwehrgeräte. „Sie sind so laut“, stöhnt Skolnik. „Wie ein Hubschrauber, der nie landet.“ Skolniks zwei- und sechsjährige Töchter spielen mit den plumpen Tieren, die Mutter schaudert es. „Wir sind 2005 aus Algerien eingewandert, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“
Was manche an die biblischen Plagen erinnert, gibt es nur im Osten der USA: mehrere Zentimeter lange Zikaden mit großen roten Augen und orangefarbenen Flügeln, die 17 Jahre lang in der Erde reifen, bevor sie das Land mit einer Massenorgie aus Lärm, Sex und Tod überziehen. „Das ist ihre Strategie“, erklärt Gary Hevel von der Insektenabteilung der Smithsonian Institution in Washington. „Ihre Zahlen sind so absurd, dass sie alle Feinde verwirren.“
Zikaden beißen und stechen nicht, sie werden höchstens überraschten Rad- und Motorradfahrern gefährlich. Skolniks Abneigung teilt Hevel deshalb nicht: „Das sind wunderbare Geschöpfe“, schwärmt der 71-Jährige. „So was gibt es auf der ganzen Welt nicht noch einmal.“ Wenn man das Glück habe, ein großes Exemplar einzeln zu belauschen, könne man beinahe das Wort Pharao verstehen.
Die sogenannte 17-Jahr-Zikade verbringt die meiste Zeit ihres Lebens im Boden, wo sie sich als Larve von Wurzelsaft ernährt. Im letzten Jahr, wenn die Luft über der Erde warm genug ist, schlüpfen die Tiere, und die Männchen beginnen eine lautstarke Partnersuche. Zur Paarung und zur Eiablage bleiben nur wenige Wochen, dann sterben die Eltern.
Die Wissenschaft unterscheidet diverse Unterarten, vor allem im wärmeren Süden kommen einige auch mit 13 Jahren Entwicklungszeit aus. Hevel räumt aber mit dem Irrtum auf, dass „Magicicada“ nur selten auftritt: Derzeit zählen seine Kollegen 15 Jahrgänge, so dass fast in jedem Sommer Tiere schlüpfen. Brut X, die zuletzt im Jahr 2004 auftrat, gilt als Rekordhalter; damals war tatsächlich fast die ganze Ostküste übersät.
Der zweistärkste Jahrgang
2013 ist Brut II dran, die als zweitstärkster Jahrgang gilt. Bislang konzentrieren sich die Tiere auf North Carolina und Virginia; die Hauptstadt Washingtons und große Teile von Maryland sind zikadenfrei.
Nicht so Pennsylvania, New York und Connecticut. „Man muss wissen, wo man suchen muss“, sagt Bun Lai. „Dann kann man sie wie Erdbeeren einsammeln.“ Und das macht Lai auch. Der 43-Jährige betreibt in New Haven ein Sushi-Restaurant, mit dem er für den James Beard Foundation Award nominiert worden ist, den angesehensten Koch-Preis der USA. Dabei hat „Miya’s Sushi“ neun von zehn traditionellen Sushi-Zutaten gar nicht auf der Karte. Bun Lai konzentriert sich auf Gerichte, die ökologisch, gesellschaftlich und vom Nährwert her Alternativen aufzeigen könnten. Erst im Mai hat die UNO dazu aufgerufen, aus all diesen Gründen mehr Insekten zu essen.
Bei Bun Lai gibt es jetzt schon Gourmet-Zikaden: Für den Hausgebrauch empfiehlt der Küchenchef eine Marinade aus Limettensaft und etwas Salz, nachdem die Flügel entfernt sind. In „Miya’s Sushi“ kommen noch getrocknete Chili und ein selbst kreiertes Seegras-Gelee hinzu, bevor das Insekt über Apfelbaumholz geräuchert und schließlich dehydriert wird.
Der Originalgeschmack liege irgendwo zwischen Shrimp, Spargel und Nuss. „Und der geht auch nicht verloren“, versichert Bun Lai. „Zikaden haben einen beachtlichen Körper, das ist ein ganzer Mund voll.“ Nur auf Garmethoden wie Kochen oder Dämpfen verzichtet der Mann, dessen Eltern aus China und Japan stammen: „Für mein Publikum wäre das etwas zu viel der Saftigkeit.“