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Abtreibung: „Yes“ or „No“?

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Abtreibung: „Yes“ or „No“?

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    Eine Abtreibungsgegnerin (links) hält ein weißes Blatt vor das „YES“ von Frauen, die Abtreibungen befürworten.
    Eine Abtreibungsgegnerin (links) hält ein weißes Blatt vor das „YES“ von Frauen, die Abtreibungen befürworten. Foto: Foto: Brian Lawless, dpa

    Überall waren sie, die strahlenden Gesichter im Supermarkt und auf der Arbeit, die Glückwünsche zum erwarteten dritten Baby, die kleinen Geschenke zur nahenden Geburt. Tracey lächelte stets, streichelte sich fast automatisch über ihren Bauch. Später würde sie nach Hause in der irischen Grafschaft Mayo gehen, sich an den Küchentisch setzen – und weinen. Denn unter ihrem Herzen wuchs ein Mädchen heran, das langsam starb. In der 22. Schwangerschaftswoche eröffneten die Ärzte der zweifachen Mutter, dass ihr Baby todkrank ist, die Lungen aussehen wie bei einem zwölfwöchigen Embryo und der zu klein gewachsene Brustkorb keinen Platz für die Organe bereithalte.

    Während gesunde Neugeborene sofort nach Luft schnappen, wenn sie auf die Welt kommen, würde ihr Kind außerhalb des Mutterleibs augenblicklich nach einem Atemversagen sterben, so die Mediziner. Die Irin und ihr Mann Kieran entschieden sich, das Kind nicht auszutragen, nur um zu erfahren, dass die Verfassung sogar in ihrem Fall einen solchen Eingriff verbietet – weil das Leben der Mutter nicht in Gefahr war und der Abbruch deshalb vor dem Gesetz als Abtreibung galt. Und damit strafrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte. 14 Jahre Gefängnis drohen Müttern und Ärzten bei einer Abtreibung in Irland, selbst wenn die Frau vergewaltigt wurde oder es schwerwiegende medizinische Gründe gibt wie bei Tracey.

    Vier Wochen lang schaffte sie es nach der niederschmetternden Diagnose, die Fassade aufrechtzuerhalten. „Aber ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.“ Nicht nur, dass das Baby noch lebte. Alle konnten sehen, wie der Bauch wuchs. Fremde fragten: Junge oder Mädchen? Tracey dachte: So gut wie tot. Dann flog das Paar nach Großbritannien. In der Frauenklinik in Liverpool leiteten die Ärzte die Geburt ein, nach 36 Stunden qualvoller Wehen brachte Tracey in bedrückender Stille „den schönsten kleinen Engel“ zur Welt. Ein Priester kam, segnete das Mädchen, dem die Eltern den Namen Grace gaben. Stundenlang hielten sie ihre tote Tochter, legten sie dann vorsichtig in einen Wagen, daneben einen Teddybär. Sie verabschiedeten sich, der Rückflug ging. Die Asche sollte erst drei Wochen später in Moya per Kuriersendung eintreffen.

    Wenn die 36-jährige Mutter von mittlerweile vier Kindern von den Stunden in der Klinik erzählt, zittert ihre Stimme, voller Trauer, Schmerz und Wut. „Wie grausam ist es, dass ich mein Baby in einem anderen Land lassen musste?“ Es ist eine Geschichte von Tausenden, die nun erzählt werden und aufrütteln sollen. Am Freitag stimmen die Iren in einem historischen Referendum über den achten Zusatz der Verfassung ab, der das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes auf die gleiche Stufe mit dem der Mutter stellt.

    Die Umfragen sehen das „Ja“-Lager und damit jenes, das eine Abschaffung des Artikels 40.3.3. befürwortet, knapp vorne. Doch der Vorsprung ist geschmolzen. Und ein Viertel der Wähler hat sich noch nicht entschieden, ob es zu einer Angleichung an die Gesetze der allermeisten EU-Mitgliedstaaten kommen soll, wonach ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche legal ist. Dutzende Aktivisten beider Seiten verteilen deshalb auf Dublins Einkaufsmeile Grafton Street Broschüren, verwickeln Passanten ins Gespräch. „Es bricht einem das Herz, dass in Großbritannien 90 Prozent aller Babys mit Down-Syndrom abgetrieben werden, finden Sie nicht auch?“, fragt ein junger Mann mit „No“-Sticker auf der Jacke. Die Risse, die sich durch die irische Gesellschaft ziehen, zwischen Tradition und Moderne, Kirche und Säkularisierung, sind derzeit offensichtlich. Jede Straßenlaterne ist zugepflastert mit bunten Plakaten. Die Ja-Kampagne appelliert an „Mitgefühl und Respekt“, erinnert an die Gesundheit der Betroffenen und fordert: „Vertraut Frauen. Unsere Körper, unsere Wahl“. „Wirkliches Mitgefühl tötet nicht“, steht dagegen in roten Buchstaben auf einem Plakat des „Rettet den Achten“-Lagers. „Ich bin neun Wochen alt. Ich kann gähnen und treten. Schafft mich nicht ab“, heißt der Slogan neben einem Ultraschallbild eines Fötus. Über einem scheinbar an einem Daumen lutschenden Ungeborenen steht: „Mein Herz begann nach 22 Tagen zu schlagen.“ Die emotional geführte Debatte spaltet das Land. „Der Achte muss endlich weg“, sagt die 25-jährige Kate. „Es geht nicht darum, für oder gegen Abtreibung zu sein, sondern darum, dass den Frauen die Wahl gegeben wird, dass der Staat sie als mündig betrachtet“, sagt sie, die eigentlich in London lebt und eigens für die Abstimmung eingeflogen ist. Tatsächlich kommen seit Tagen Irinnen und Iren aus aller Welt, um in ihrer Heimat ihre Stimme abzugeben – aus Buenos Aires, Bangkok oder Barcelona. „Kosten der Flüge von Hanoi nach Dublin: 800 Euro. Länge der Reise: 20 Stunden. Die Möglichkeit, den Achten abzuschaffen: unbezahlbar“, tweetete eine Nutzerin unter dem Hashtag #HomeToVote.

    Zehn bis zwölf Frauen reisen pro Tag ins Ausland, um ihre Schwangerschaft zu beenden, so die Schätzungen. Die meisten gehen nach England, oft unter schwierigen, manchmal traumatisierenden Umständen. „Wir fühlten uns im Stich gelassen, als ob wir ein Verbrechen begingen“, sagt Tracey. All jenen, die sich das teure Prozedere nicht leisten können – mit Reisekosten, Unterkunft und Behandlung können Tausende Euro zusammenkommen – bleibt nur eine Alternative: illegale Abtreibungspillen zu nehmen. Im Internet offeriert für 70 Euro pro Stück. Verbände nehmen an, dass in den letzten zwölf Monaten rund 1000 Frauen auf dieses Mittel zurückgriffen. Der irische Premierminister, Leo Varadkar, vor seiner Karriere in der konservativen Partei Fine Gael praktizierender Arzt, meint, bei einem Nein-Sieg sei es nur eine Frage der Zeit, bis jemand nach der unkontrollierten Einnahme dieser Tabletten verblute. Er setzt sich mittlerweile für eine Reform des strikten Abtreibungsrechts ein. „Wir können nicht weiterhin unsere Probleme exportieren und unsere Lösungen importieren.“ Sein politisches Schicksal hängt wohl auch vom Ergebnis ab. Bei einem Ja-Votum müsste das Gesetz zunächst das irische Parlament passieren. Die größte Oppositionspartei, Fianna Fail, toleriert zwar Varadkars Minderheitsregierung, ist beim Thema Abtreibung aber tief gespalten.

    Kathy Sinnott war ebenfalls bereits vor 35 Jahren aktiv, doch auf der anderen Seite. „Das Leben jeder einzelnen Person ist heilig und wertvoll – von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“, sagt die ehemalige Abgeordnete im EU-Parlament und neunfache Mutter, die oft mit finanziellen Schwierigkeiten haderte und meistens auf sich allein gestellt war. Ihr Ehemann kam und ging. Sinnott bezeichnet sich als „Dinosaurier“ der Pro-Leben-Kampagne. Vermutlich hat sie recht. Bei den Märschen laufen überraschend viele junge Menschen auf, dagegen ist die Kirche auffallend abwesend. Nach etlichen Skandalen hat sie sich weitgehend aus der Debatte zurückgezogen. Und doch, bis heute bezeichnen sich 87 Prozent der Iren als katholisch. In einem Land, das durch das katholische Patriarchat beeinflusst ist und in dessen Schulen Generationen von Iren den Antiabtreibungsfilm „Der stumme Schrei“ vorgeführt bekamen, wabern unterschwellig noch immer Stigma und Schande, wenn es um „Irlands letztes Tabu“ geht, wie die „Irish Times“ es bezeichnete.

    Es mussten wahre Tragödien ans Licht kommen, damit das Gesetz im Jahr 2013 erstmals präzisiert wurde. Einer der traurigen Fälle war jener der damals 31-jährigen Zahnärztin Savita Halappanavar, die 2012 in der 17. Schwangerschaftswoche in einer irischen Klinik an einer Blutvergiftung starb. Zuvor hatten sich die Ärzte geweigert, den sterbenden Fötus aus ihrer Gebärmutter zu entfernen, solange das Herz des Ungeborenen schlug. Im Anschluss gab die Politik dem Druck der Öffentlichkeit nach und beschloss, dass Mediziner die Schwangerschaft unterbrechen dürfen, wenn das Leben der Frau bedroht ist oder sie als suizidgefährdet gilt.

    Vicky, eine 21-jährige Studentin, die Flyer verteilt und auf Pro-Life-Märschen mit Tausenden anderen lautstark „Rettet Leben!“ fordert, meint, das sei genug der Liberalisierung. Für sie gehe es weniger um religiöse Überzeugungen als um Menschenrechte und die Bewahrung des einzigartigen Wesens Irlands. Neben der Aktivistin ist eine kleine Bühne aufgebaut, auf der schier endlos ein Abtreibungsgegner nach dem anderen erscheint. Die Ansprachen an das Publikum beginnen stets mit denselben Worten: „Meine Mutter hat fast abgetrieben. Hätte sie es getan, stünde ich jetzt nicht hier.“ Eine Passantin hält kurz inne, dreht sich zu ihrer Begleiterin und sagt nur: „Sie hatte aber auch keine Wahl.“

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