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KAIRO: Ägyptische Muslimbrüder sollen gehenkt werden: 683 Todesurteile ohne Beweise

KAIRO

Ägyptische Muslimbrüder sollen gehenkt werden: 683 Todesurteile ohne Beweise

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    Verzweifelt sind Verwandte von zum Tode verurteilten Mursi-Anhängern in Ägypten.
    Verzweifelt sind Verwandte von zum Tode verurteilten Mursi-Anhängern in Ägypten. Foto: Foto: dpa

    Als Richter Said Jussef gestern um kurz nach neun Uhr Ortszeit das Todesurteil gegen 683 Angeklagte verliest, kommt es vor dem Gericht im oberägyptischen Minja zu erschütternden Szenen. Einige Angehörige der Verurteilten schlagen sich aus Trauer auf Brust und Kopf oder wälzen sich auf dem Boden. Andere ballen die Fäuste in Richtung der Militärpolizisten, die auf Panzern und mit Gewehr im Anschlag das Gerichtsgebäude nach allen Seiten abschirmen. „Alle sechs männlichen Mitglieder meiner Familie sind zum Tod verurteilt worden“, schluchzt eine Frau in die Kameras. „Was soll ich nur tun?“

    Für die Angehörigen ist es nur ein kleiner Trost, dass gleichzeitig 429 weitere Angeklagte aus Minja, die bereits im Vormonat zum Tod durch den Strick verurteilt worden waren, stattdessen nun lebenslänglich ins Gefängnis sollen. Das beschloss dasselbe Gericht nach Rücksprache mit dem Großmufti, dem obersten Religionswächter des Landes. 37 Todesurteile aus dem ersten Prozess wurden hingegen aufrechterhalten. Gegen beide Urteile kann Berufung eingelegt werden.

    Wie schon beim ersten Massenprozess gegen Anhänger der neuerdings wieder verbotenen Muslimbruderschaft im März fällte der Richter auch das gestrige Urteil nach nur wenigen Stunden Verhandlung. Erneut weigerte er sich, die Verteidigung und deren Zeugen anzuhören. Auch wurden erneut keinerlei Beweise für die angebliche Schuld der Angeklagten vorgebracht. Diese sollen im vergangenen August einen Polizisten in Minja ermordet sowie zu Gewalt aufgerufen haben, nachdem Stunden zuvor Sicherheitskräfte in Kairo Hunderte islamistische Demonstranten niedergemetzelt hatten. Unter den zum Tod Verurteilten befindet sich auch der Anführer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie.

    Schon beim Prozess im März waren alle Angeklagten wegen nur eines Mordes kollektiv schuldig gesprochen worden. In einer ersten Reaktion auf das Urteil schrieb die Menschenrechtsgruppe Amnesty International gestern, der Prozess habe die Glaubwürdigkeit der ägyptischen Justiz „den Todesstoß versetzt“. Die Mehrheit der Angeklagten sei dem Richter gar nicht erst vorgeführt worden. Bei vielen der zum Tode Verurteilten soll es sich laut der Verteidigung nicht um Anhänger der Muslimbruderschaft handeln.

    Während die Stadt Minja nach dem zweiten Skandalurteil kopfstand, erntete der Prozess andernorts nur wenig Beachtung. In den staatlich gelenkten Medien wurde kaum Aufhebens um die Tatsache gemacht, dass nach Angaben von Menschenrechtlern noch nie zuvor in der modernen Geschichte so viele Todesurteile auf einen Schlag verhängt wurden. Einige für ihren anti-islamistischen Kurs bekannte Moderatoren forderten sogar noch härtere Urteile. Der eigentliche Skandal sei „der Aufschrei über das Urteil einer unabhängigen Justiz“, schrieb die Online-Ausgabe der Tageszeitung Al-Ahram.

    Rechtsexperten streiten indes, ob das Urteil in Absprache mit den derzeitigen Machthabern erfolgte. Klar ist, dass die Ziele der Justiz und der Armeeherrscher teilweise übereinstimmen. Beide sehen die Muslimbruderschaft als ihren gefährlichsten Gegner und drängen auf eine völlige Zerschlagung der Organisation.

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