Palermo, Sommer 1991. Drei der fünf Schüsse trafen Libero Grassi direkt in den Kopf. Die Cosa Nostra ermordete den sizilianischen Textilunternehmer auf offener Straße. Grassi hatte sich geweigert, pizzo – Schutzgeld – zu zahlen. Stattdessen zeigte er die Mafia an und ließ in der Tageszeitung „Giornale di Sicilia“ einen offenen Brief an die „lieben Erpresser“ mit einer eindeutigen Botschaft abdrucken: „Ich bezahle euch nichts.“ Am Ende bezahlte Grassi – mit seinem Leben.
Palermo, 21 Jahre später. „In der Vergangenheit war die Cosa Nostra hier präsenter“, erzählt ein Sizilianer in geselliger Runde und nippt an seinem Nero d'Avola. „Man hat ihre Anwesenheit gespürt“, erklärt er dem Reporter aus Deutschland. Andere Palermitaner am Tisch pflichten ihm bei. Sie haben die vielen Attentate der 80er und 90er Jahre, die auf das Konto der Mafia gingen, im Kopf. Heute ist es ruhiger geworden um die Cosa Nostra und auch um die anderen großen italienischen Mafiasyndikate 'Ndrangheta, Camorra oder die weniger bekannte Sacra Corona Unita. Doch die Ruhe ist trügerisch, darin sind sich Experten einig. 140 Milliarden Euro nimmt die italienische Mafia Schätzungen zufolge jährlich ein. Und ein Teil des Umsatzes wird längst auch in Deutschland gemacht.
Nördlich der Alpen ist man inzwischen alarmiert. „Schutzgelderpressung ist deutsche und bayerische Realität“, sagt Harald Schneider, Landtagsabgeordneter aus Karlstadt (Lkr. Main-Spessart). Der SPD-Politiker und ehemalige Polizist stehe mit den „Kollegen“, wie er die Ermittler bis heute nennt, in engem Kontakt und ist sich sicher: „Wir haben in Bayern ein Problem mit organisierter Kriminalität aus Italien.“
Laura Garavini, Mitglied der Antimafia-Kommission im italienischen Parlament, bestätigt Schneiders Einschätzung gegenüber dieser Zeitung. Sowohl das Bundeskriminalamt (BKA), als auch italienische Ermittler seien zu der Erkenntnis gelangt, dass Bayern ein Stützpunkt der IOK, wie die italienische organisierte Kriminalität im Beamtensprech abgekürzt wird, sei.
Deshalb wollen Schneider und Garavini nun die Initiative „Mafia? Nein danke!“ auch in München etablieren. Die 46-jährige Italienerin rief die Bewegung 2007 in Berlin nach den Mafiamorden von Duisburg ins Leben. Die Kernidee dahinter: Die teilnehmenden Gastronomen und Unternehmer unterzeichnen eine Selbstverpflichtung, jeden Versuch von Schutzgelderpressung anzuzeigen.
In den kommenden Monaten wollen Schneider und Garavini italienische Geschäftsleute in München zu einem ersten Vorbereitungsgespräch einladen. „Wir werden viel Überzeugungsarbeit leisten müssen“, glaubt Schneider. Einige Italiener hätten die Befürchtung, dass eine Teilnahme bei „Mafia? Nein danke!“ für die Öffentlichkeit einem Eingeständnis gleichkäme, dass alle Italiener in irgendeiner Form mit der Mafia in Verbindung stünden.
Dabei hat „Mafia? Nein danke!“ ein sizilianisches Vorbild. Unweit des Hauptbahnhofs von Palermo hat die Organisation „Addiopizzo“ – zu deutsch „Tschüß Schutzgeld“ – ihren Sitz. Christine, eine Praktikantin aus Augsburg, öffnet die Türe und führt in Räume, die an ein Jugendzentrum erinnern. Auf nicht mehr ganz neuen Sofas sitzen freundliche Männer, Sizilianer um die 30. Einer von ihnen ist Daniele Marannano. Er gehörte einer Gruppe Studenten an, die 2004 ganz Palermo über Nacht mit Aufklebern tapezierte. „Ein ganzes Volk, das pizzo bezahlt, ist ein Volk ohne Würde“, war auf ihnen zu lesen.
Aus der Aufkleberaktion wurde die Bewegung „Addiopizzo“, der sich bis heute 754 Läden und Unternehmen in Palermo angeschlossen haben. Doch auch in der sizilianischen Heimat der Mafia mussten die Händler erst überzeugt werden, sich offen gegen die Mafia zu positionieren. Knapp zwei Jahre hat es laut Marannano gedauert, bis man die ersten 100 Unternehmer zusammenhatte. „Schutzgeld ist in Italien ein Tabuthema“, erklärt er die Hintergründe. „Man unterhält sich nicht darüber, ob, und wenn ja, wie viel pizzo man zahlt.“ Dazu kam die Angst vor den Erpressern.
Dass Italiener in Bayern um ihr Image fürchten, wenn sie sich „Mafia? Nein danke!“ anschließen, kann Marannano dagegen nicht nachvollziehen. „Wenn man einen Aufkleber an der Tür hat, der aussagt, dass man kein Schutzgeld zahlt, heißt das doch nicht automatisch, dass man jemals Kontakt zur Mafia hatte“, wundert er sich.
„Addiopizzo“ gilt in Italien unterdessen als erfolgreich: Wie Ex-Mafiosi, die nun mit der Polizei zusammenarbeiten – sogenannte pentiti –, in Verhören angaben, würden Unternehmen, die auf der „Addiopizzo“-Liste stehen, von der Mafia in Ruhe gelassen. Zuletzt bestätigte das Monica Vitale, Ex-Freundin des inzwischen festgenommenen Cosa-Nostra-Paten Gaspare Parisi.
Dennoch, gibt Marannano zu, ist die Insel weit davon entfernt, pizzo-frei zu sein: „Schutzgeld wird auf Sizilien nach wie vor bezahlt, genauso wie in Norditalien oder in Deutschland.“ Durch die Festnahme zahlreicher Bosse sei die Mafia zwar „geschwächt, aber nicht schwach“, meint er und zeigt hinter sich auf einen Stadtplan von Palermo, auf dem rote und blaue Linien eingezeichnet sind. „Die blauen Linien markieren die einzelnen Stadtteile“, erklärt er. Größere Bedeutung hätten aber bis heute die roten. „Sie zeigen, wie die Mafiafamilien Palermo unter sich aufgeteilt haben, also wer wo Schutzgeld eintreibt.“
Doch genauso wenig, wie die Mafia nicht nur in italienischen Städten, sondern laut Garavini auch in weiten Teilen Westeuropas ihr Unwesen treibt, ist das Schutzgeld nicht das einzige Geschäft der sogenannten ehrenwerten Gesellschaft. In einem aktuellen Bericht des BKA werden zu den „Hauptaktivitätsfeldern“ der italienischen Mafia in Deutschland Kokainhandel, Fälschungskriminalität und Geldwäsche gezählt.
Schutzgeld ist dabei oftmals nur Nebenerwerb, Mittel zur Machtdemonstration – und häufig ein irreführender Begriff: Zahlten Unternehmer in Palermo laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2008 abhängig von ihrem Gewinn durchschnittlich 800 Euro pizzo im Monat, hat eine Schutzgeldforderung in Berlin oder München laut Garavini nicht unbedingt auch etwas mit Geld zu tun.
Stattdessen werden Erpressungsopfer oftmals unfreiwillige Mafiahelfer. Die Palette reiche von kleinen Gefallen bis hin zur Abwicklung großer Geschäfte: einem Clanmitglied, das ins Visier der Ermittler geraten ist, beim Untertauchen helfen, indem man es vorübergehend in der Pizzeria einstellt, Drogen schmuggeln, Falschgeld lagern.
In diesem Licht zeigt sich, wie nah die Mafiarealität plötzlich sein kann. Erinnerungen an vergangenen Juni werden wach, als das SEK mehrere Razzien in Pizzerien und Privatwohnungen im Großraum Bad Kissingen auf der Suche nach Falschgeld durchführte. Die Leid tragenden Gastronomen waren dabei unter Umständen Opfer in doppeltem Sinne – der Razzia und der Mafia. Gefunden wurde bei den Aktionen im Sommer nichts. Dennoch legt ein BKA-Bericht nahe: Auch kleinere Ortschaften in Unterfranken dienen der Mafia als Aktions- und Rückzugsraum.
Wie das Bayerische Innenministerium mitteilt, wurde in den vergangenen fünf Jahren in 25 Fällen gegen „italienische Tätergruppen“ im Freistaat ermittelt. In 15 Verfahren konnten Bezüge zu italienischen Mafiasyndikaten nachgewiesen werden. Namentlich nennt der entsprechende Bericht in diesem Zusammenhang 'Ndrangheta, Camorra und Cosa Nostra.
„Könnten wir ordentlich ermitteln, wären die Zahlen viel höher“, kommentiert Schneider die Statistik. Gleiches gelte für die 2,7 Millionen Euro, die das Innenministerium als „nachweisbare Erträge“ von IOK-Gruppierungen für das Jahr 2011 ausweist. In Ermittlerkreisen geht man laut Schneider von einem Vielfachen dessen aus. „Die Polizei weiß von vielen krummen Geschäften, aber den Kollegen sind oft die Hände gebunden.“
Was Schneider meint, sind die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit zwischen deutschen und italienischen Behörden. „Deutsche und italienische Ermittler dürfen bisher nicht auf Arbeitsebene zusammenarbeiten“, erklärt er. Bei allen Rechtshilfeersuchen müsse der offizielle Dienstweg – über LKA, BKA und Generalstaatsanwaltschaften – eingehalten werden. Ein Prozedere, das laut Schneider meist „mehrere Monate“ dauert. Die Folge: Ermittlungen würden unnötig in die Länge gezogen, das Ermittlungsergebnis werde so gefährdet.
Daher findet im März auf Schneiders Initiative hin eine Anhörung von Sachverständigen im Bayerischen Landtag statt: Vier Staatsanwälte und drei Vertreter der Polizei sollen dann von ihren Problemen bei grenzüberschreitenden Ermittlungen berichten. Auch Garavini ist als Gast geladen. Schneider hofft, dass dabei auch Impulse für die Verbesserung einer in seinen Augen zweiten Schwachstelle in Deutschland gegeben werden: die Gesetzeslage.
Schneiders Kritik in diesem Punkt ist heikel, denn sie betrifft die Unschuldsvermutung, die im deutschen Rechtsstaat für jeden gilt – auch für Mafiosi. Italien dagegen hat für Mafiaangehörige eine Beweislastumkehr eingeführt: So muss ein Verdächtiger gegebenenfalls beweisen, dass er seine Villa, sein Auto oder andere Besitztümer mit legalen Mitteln finanziert hat. Kann er das nicht, hat die Justiz die Möglichkeit, das Vermögen einzuziehen. Alleine 2011 haben die italienischen Mafiajäger Immobilien und Luxusgüter im Gesamtwert von über vier Milliarden Euro beschlagnahmt, teilte jüngst das Innenministerium in Rom mit.
„Deutschland ist ein Paradies für die Mafia“, mahnt Garavini. Es sei Geld zu holen und die Polizei sei in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Die Mafia habe sich globalisiert, die Ermittler nicht. Wie international die Mafia agiert, erklärt Garavini am Beispiel eines Windparks in Kalabrien. Den habe die 'Ndrangheta mithilfe von Scheinfirmen – die meisten als GmbHs in Deutschland gegründet – gebaut. Das System: Die Mafia pumpt Gelder aus illegalen Geschäften in die Tarnunternehmen, das diese dann in legale Geschäfte investieren. Die erneuerbaren Energien sind für die Mafia dabei ein besonders attraktives Feld, bringen doch Investitionen in Wind- oder Solarparks nebenbei gleich Fördergelder aus öffentlicher Hand mit ein.
Da die strafrechtliche Verfolgung einer juristischen Person, wie einer GmbH, in Deutschland nicht möglich sei, sei das Risiko für die Mafia minimal, so Garavini. Ein EU-Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2008, der genau das ändern soll, sei von Deutschland nicht umgesetzt worden. „So werden Gesetzeslücken genutzt, um Geld zu waschen und sich zu bereichern“, sagt Garavini. Deutschland habe das Mafiaproblem zwar erkannt, dennoch bleibe viel zu tun. „Man darf nicht auf ein zweites Duisburg warten“, mahnt sie.
Der italienischen Mafia ist ein Kunststück gelungen: Zu oft wird sie verharmlost und verklärt. Sie wird eher mit Begriffen wie Ehre oder Familie als mit Erpressung oder Mord in Verbindung gebracht. Sie ist zum Mythos geworden, Folklore und Klischees haben die Realität überholt. Der Mafiaepos „Der Pate“ hat dazu beigetragen. Das wahre Gesicht der Mafia erkennt man jedoch nur, wenn man eine Warnung aus dem Film ignoriert: „Frag mich niemals nach meinen Geschäften.“