Als die Börsen die Ergebnisse des EU-Gipfeltreffens am Freitagmorgen bejubelten, waren die Kombattanten gerade erst ins Bett gegangen. „Wir sind unserer Philosophie, keine Leistung ohne Gegenleistung, treu geblieben“, bilanzierte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Verhandlungsmarathon um fünf Uhr morgens. Dass dieses Selbstlob nicht ganz der Wirklichkeit entsprach, bestätigte Frankreichs Staatspräsident François Hollande: „Wir haben uns gemeinsam bewegt. Die beste Art, andere zu bewegen, besteht darin, sich selbst zu bewegen.“ Die „eiserne Kanzlerin“, die den südlichen Ländern eigentlich nicht entgegenkommen wollte, hatte sich bewegt.
Das Debakel begann kurz vor Mitternacht, als Italiens Premier Mario Monti den 120-Milliarden-Euro-Wachstumspakt blockierte und seinen spanischen Kollegen Mariano Rajoy mitzog. „Wenn Europa nichts für uns tut, geht hier nichts weiter“, soll Monti gesagt haben. Die dänische Ratspräsidentin Helle Thorning-Schmidt fragte betroffen, ob nun alle Anwesenden Geiseln seien. Der Gipfel stand vor dem Scheitern. Auch wenn einige Regierungskollegen die beiden Männer aus Rom und Madrid als „verantwortungslos“ angriffen und ihnen Erpressung vorwarfen.
Doch Druck wirkt auch heilsam. Viele Stunden später traten plötzlich alle als „Gewinner“ an die Öffentlichkeit. Gemeinsam hatte man bisherige Tabus gleich reihenweise gebrochen. Bis Anfang des Jahres legt die Kommission einen Vorschlag für eine europäische Bankenaufsicht vor, die bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt wird. Schon dieser erste Schritt enthält mehr Ungelöstes als Klarheit. Denn ob die EZB damit künftig direkt in die Geschäftspolitik schwankender Geldinstitute eingreifen darf oder nicht, blieb ebenso offen wie die Frage, ob damit nicht am Ende eine Haftung des Staates verbunden ist.
Doch solche Details sollten den Erfolg nicht trüben, also stellte man sie zurück. Ist die Bankenaufsicht installiert, darf der dauerhafte ESM-Fonds direkte Hilfen an Banken ausschütten – vorausgesetzt das Mitgliedsland hält sich an die Stabilitätsregeln.
Sinkende Risikozuschläge
Das kommt Spanien zugute, denn damit steht fest: Werden Geldinstitute alimentiert, erhöht sich nicht das staatliche Defizit. Der Trick funktionierte. Prompt sanken am Freitagmorgen die Risikozuschläge für Madrider Anleihen. Der Italiener Monti konnte durchsetzen, dass Zuschüsse aus dem ESM für marode Geldhäuser nicht das volle Kontrollprogramm der Troika auslösen. Vor allem aber erreichte er eine kleine, unscheinbar wirkende Korrektur mit enormer Wirkung. Bisher hatte man dem ESM nämlich den Status als „bevorzugter Gläubiger“ eingeräumt. Mit anderen Worten: Wenn die verschuldeten Regierungen ihre Hilfen zurückzahlen, musste zuerst der Rettungsschirm bedient werden. Die Folge dieses Sonderstatus war fatal: Private Investoren wurden abgeschreckt und hielten sich lieber zurück. Nun wird die Klausel gestrichen. Monti hatte auf der ganzen Linie gewonnen. Ergebnis: Auch die Zinsen für römische Papiere gingen zurück. Forderungen in Richtung EZB gab es im Übrigen nicht. Ihre Unabhängigkeit bleibt unangetastet, die Frankfurter Banker leisten lediglich technische Hilfe.
„Die Bundeskanzlerin stand zu keinem Zeitpunkt völlig isoliert da“, stellte am frühen Freitagmorgen Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker klar. Trotzdem wird sich die Kanzlerin in Berlin manch unangenehme Frage gefallen lassen müssen. Schließlich feierte der italienische Premier den Durchbruch als „Aufbruch der mentalen Blockade in der Eurozone“. Denn es sei gelungen, den Weg für Eurobonds zu bereiten. Das Stichwort findet sich weiter in den Unterlagen, die Ratspräsident Herman Van Rompuy vorgelegt hatte. Deutsche Delegationskreise widersprachen spontan: „Heute Nacht ist kein Beschluss in diese Richtung gefasst worden“, hieß es in Brüssel.
Im Gegenteil: Deutschland habe durchgesetzt, dass auch in Zukunft lediglich die schon existierenden Instrumente der Rettungsschirme EFSF und ESM in Anspruch genommen würden. Außerdem bleibe es bei dem Prinzip „Kontrolle vor Haftung“. Irgendwie waren somit die Verlierer auch die Gewinner dieses Gipfels.