Männer schleppen nagelneue Kühlschränke heran, draußen vor der Türe werden in Schutzfolien verpackte Krankenliegen abgeladen. Im Inneren des provisorischen Lazaretts neben der Rabaa Adawiya Moschee in Nasr City beugen sich Apotheker über unendliche Mengen an Plastiktüten mit frischen Medikamenten, die Freiwillige aus allen Teilen Kairos den gesamten Tag über hergebracht haben. Vor einem Krankenwagenbus reihen sich die Menschen, die Blut spenden wollen.
Islam Abdel Halim hat den ganzen Horror miterlebt. Fast alle Opfer des Massakers von Samstag früh wurden in Kopf, Hals, Oberkörper oder in die Schlagader im Oberschenkel getroffen. „Solche Schüsse, die sofort töten, beherrschen nur Profis“, sagt der junge Medizinstudent im weißen Kittel. Inzwischen sind alle Toten von ihren Verwandten beerdigt worden, die meisten der rund 800 Verletzten auf umliegende Krankenhäuser verteilt. Mehr als neun Stunden lang hatten sich zuvor in dem Notlazarett chaotische Szenen abgespielt. Unablässig wurden neue vor Schmerz stöhnende Männer hereingeschleppt, Blutlachen lagen auf dem Kachelboden. Überall schrien Helfer durcheinander. „Es ist unvorstellbar, es ist die Hölle“, sagte Hisham Ibrahim, Leiter der Notklinik. „Sissi ist ein Mörder“ und „Das Volk fordert die Hinrichtung der Mörder“, skandierte draußen die Menge, die hier seit vier Wochen campiert und die Wiedereinsetzung des durch das Militär gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi fordert.
Nach Angaben von Augenzeugen hatten Polizeieinheiten am Samstag kurz nach Mitternacht zunächst Tränengas gegen Pro-Mursi-Demonstranten in Nasr City eingesetzt, die Menge dann aber ab 1 Uhr früh unter Feuer genommen. Ausgelöst wurden die Auseinandersetzungen, als Muslimbrüder versuchten, die in der Nähe ihres Camps vorbeiführende 6.-Oktober-Brücke zum Flughafen zu besetzen. Mehr als sechs Stunden lang hallten Schüsse durch die Häuserfluchten. Scharfschützen zielten von umliegenden Dächern herunter auf die Menschen. Autos gingen in Flammen auf, am Ende waren die Straßen übersät mit Blutlachen, Patronenhülsen und Steinen. In Europa und den USA löste die Eskalation Sorge und Entsetzen aus. Besonders US-Außenminister John Kerry redete der neuen Führung in Kairo hart ins Gewissen und erklärte, Ägypten müsse vor dem Abgrund bewahrt werden und alle Seiten müssten in einen „sinnvollen politischen Dialog“ eintreten. Es sei „essenziell, dass die Sicherheitskräfte und die Interimsregierung das Recht auf friedlichen Protest respektieren, einschließlich der gegenwärtigen Sitzstreik-Proteste“ – eine klare Anspielung auf die beiden Camps der Muslimbrüder in Nasr City und in Giza gegenüber der Universität Kairo.
Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, erklärte, die einzige Lösung sei ein Übergangsprozess, der alle politischen Gruppen, auch die Muslimbruderschaft, mit einschließe. Der verantwortliche Innenminister Mohamed Ibrahim ging auf seiner Pressekonferenz dann auch mit keinem Wort auf die hohe Zahl der Erschossenen ein. Die Polizei sei angegriffen worden und habe lediglich Tränengas eingesetzt. „Wir haben nie und werden nie einen einzigen Schuss auf einen Ägypter abgeben“, behauptete er, auch wenn Fotos und Videos ein total anderes Bild vermitteln. Sie zeigen vermummte Mitglieder der schwarz gekleideten Spezialeinheiten sowie zivile Scharfschützen, die gezielt auf die Demonstranten feuern. Nach Angaben von Ibrahim wurden 14 Polizisten und 37 Soldaten verletzt, zwei Beamte durch Schüsse in den Kopf. Gleichzeitig kündigte er an, man werde die nach dem Sturz von Hosni Mubarak entmachtete und für ihre Folterpraxis berüchtigte Staatssicherheit reaktivieren – und zwar die Abteilungen zum Kampf gegen Terrorismus sowie zur Überwachung politischer und religiöser Aktivitäten.
Als Einziger aus der neuen Führung beklagte Vize-Übergangspräsident und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei den „Einsatz von unverhältnismäßiger Gewalt und den Tod der Opfer“, ohne jedoch die Verantwortlichen eindeutig zu benennen. „Es wird höchste Zeit“, twitterte er, „dass wir den miserablen Zustand der Polarisierung durch den Einsatz von Vernunft beenden.“