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Bilanz eines Protests

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Bilanz eines Protests

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    Auf dem Berliner Oranienplatz: Turgay Ulu war von Anfang an bei den Protesten der Flüchtlinge dabei. Ob er in Deutschland bleiben kann, weiß er immer noch nicht.
    Auf dem Berliner Oranienplatz: Turgay Ulu war von Anfang an bei den Protesten der Flüchtlinge dabei. Ob er in Deutschland bleiben kann, weiß er immer noch nicht. Foto: Foto: Christian Mang, Imago

    Turgay Ulu ist fast jeden Tag in dem Café am Kottbusser Tor. Stumm grüßt er beim Eintreten einige der anderen Besucher. Dabei verzieht er keine Miene, er nickt ihnen nur kurz zu. Vielleicht verschwindet sein Lächeln aber auch unter dem dichten schwarzen Bart, der einen Großteil seines Gesichts bedeckt. Zwischen Dönerbuden und einem Sportwettenladen befindet sich hier, in der multikulturellen Mitte Berlins, ein Treffpunkt der Flüchtlingsszene. Die Zettel mit dem Aufdruck „No Entrance for Dealers“ – „Kein Einlass für Dealer“, die an jeder Tischoberfläche kleben, weisen darauf hin, dass der berüchtigte Görlitzer Park mit seinen Drogenproblemen nur eine U-Bahn Station entfernt ist. Ulu bestellt einen Chai Latte in flüssigem Deutsch. „Die Sprache habe ich auf der Straße gelernt“, sagt der Türke. Der 42-Jährige redet langsam und ruhig, in seiner Stimme liegt dieselbe Emotionslosigkeit, mit der er zuvor seine Bekannten begrüßt hat. Ulu ist Flüchtling, er hat 2012 in der Würzburger Innenstadt demonstriert, war bei dem Hungerstreik dabei und ist schließlich 600 Kilometer bis nach Berlin marschiert. Dort hat er das Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz mitbegründet. Anderthalb Jahre lang lebte er in der Zeltstadt im Zentrum Berlins und demonstrierte mit Hunderten anderen für Bleiberecht, Bewegungsfreiheit und ein Ende von Sammelunterkünften. „Ich wollte mich gegen die deutsche Flüchtlingspolitik wehren“, begründet Ulu, der 2011 nach Deutschland gekommen war, sein Engagement.

    Gut drei Jahre nach Beginn der Proteste in Würzburg ist dieses Ziel weitestgehend gescheitert. Vor einem knappen Jahr haben die Bewohner den Oranienplatz geräumt und sind in Flüchtlingsunterkünfte gezogen. Jetzt gab die Innenverwaltung bekannt, dass fast alle der Oranienplatz-Flüchtlinge Berlin verlassen müssen. Ihre Aufenthaltsanträge wurden abgelehnt. „200 Leute sind durch die Entscheidung obdachlos geworden“, sagt Ulu. Die Flüchtlinge sind jetzt verpflichtet, in die Bundesländer zurückzukehren, in denen ihre Asylverfahren laufen oder in das EU-Land, über das sie nach Europa eingereist sind. In den meisten Fällen ist das Italien, wo ein Leben auf der Straße auf sie wartet. Deshalb bleiben die ehemaligen Platzbesetzer in Berlin, wohnen bei Freunden und Unterstützern, einige wurden vorübergehend von der Kirche aufgenommen. Wie es mit ihnen weitergehen soll, wissen sie nicht.

    Turgay Ulus Fall ist ein bisschen anders, doch auch er steht vor der Ungewissheit. In der Türkei wartet eine lebenslange Haftstrafe auf ihn. Der Journalist hatte kommunistische Texte verfasst. Das Urteil wurde unter fragwürdigen Umständen gesprochen, Amnesty International hat dagegen protestiert. Bis 2016 darf Ulu noch in Deutschland bleiben, doch er möchte ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht durch die Anerkennung als politischer Flüchtling. Ein Gericht hat dem Vater eines kleinen Kindes diesen Status jedoch gerade erst wieder verwehrt.

    Was Ulu sich erhofft, hat Ashkan Khorasani schon sicher. Der Iraner wurde 2012 als politischer Flüchtling in Deutschland anerkannt. Auch er war von Anfang an bei den Demonstrationen in Würzburg dabei, auch er lebt mittlerweile in Berlin. „Nach den Protesten bin ich in eine Depression verfallen. Erst steht man ständig unter Strom und dann ist da plötzlich nichts mehr“, sagt der 26-Jährige auf Englisch. Khorasani kennt das Café der Flüchtlinge am Kottbusser Tor gut, doch er ist nur noch selten hier. „Ich bin raus aus der Szene“, sagt er, während er sich auf dem Balkon eine Zigarette anzündet. Von hier aus hat man einen guten Blick auf den Kreisverkehr am Kottbusser Tor – Busse, Autos und Fahrräder glitzern in der Sonne. Obwohl Khorasani kein Asylbewerber mehr war, hat er den Marsch der Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin mitorganisiert. Bald nach der Ankunft trennte er sich jedoch von der Gruppe. „Die Forderungen der Asylbewerber standen nicht mehr im Vordergrund. Einige inländische Unterstützer wollten die Bewegung zu einem allgemeinen antirassistischen Protest machen“, beschreibt Khorasani den Kern des Konflikts.

    Khorasani ist wortgewandt und höflich, der junge Iraner lächelt viel, während er erzählt. Im Juni 2013 organisierte er den Hungerstreik am Rindermarkt in München, von der Gruppe am Berliner Oranienplatz hatte er sich da längst gelöst. „In Bayern herrscht die schlimmste Asylpolitik, deshalb wollten wir dort protestieren“, sagt Khorasani. Am Rindermarkt agierte er als Verhandlungsleiter der Flüchtlinge, hungert selbst nicht. Diese Rolle brachte ihm viel Kritik ein, Politiker warfen ihm vor, die Flüchtlinge zu instrumentalisieren. Er sei ein ausgebildeter Politiker und gehöre der kommunistischen Opposition im Iran an, war damals über ihn zu lesen. Khorasani sagt von sich, er sei erst in Deutschland radikalisiert worden. „Als Asylbewerber gehörst du nicht zur Gesellschaft, darfst keine selbstständigen Entscheidungen treffen. Ich bin nur für ein besseres Leben nach Deutschland gekommen, doch diese Erfahrungen haben mich politisiert.“

    Zurück in Berlin-Neukölln, wo Khorasani lebt, prasseln die Folgen der Proteste auf ihn ein. Das Gerichtsverfahren zum Rindermarkt läuft noch. Den Aktivisten wird vorgeworfen, sich bei der Räumung gegen Polizisten gewehrt zu haben. Sie müssen Geldstrafen bezahlen, sitzen auf Kosten für Anwälte und Dolmetscher. „Wir haben etwa 15 000 bis 20 000 Euro Schulden“, sagt er. Trotzdem bereut er den Protest nicht. Dass die Bundesregierung zum 1. Januar 2015 einige Erleichterungen, wie die Lockerung der Residenzpflicht, beschlossen hat, führt er etwa auf die massiven Proteste zurück. Außerdem bekamen einige der Aktivisten nach dem Hungerstreik ein Bleiberecht.

    Vor allem aber möchte Khorasani ein Vorbild für andere Flüchtlinge sein. „In den vergangenen Monaten haben sich in vielen deutschen Städten Protestcamps gebildet. Asylbewerber lernen, sich selbst zu organisieren“, so Khorasani. Er will jetzt noch einen letzten Beitrag zum Protest der Flüchtlinge leisten. Zusammen mit seinem iranischen Mitstreiter Mohammad Kalali schreibt er an einem Buch. „Wir wollen unsere Erfahrungen an nachfolgende Asylbewerber weitergeben“, sagt er.

    Während Khorasani sich langsam zurückzieht, steckt Turgay Ulu noch mittendrin in der großen und unübersichtlichen Berliner Flüchtlingsbewegung. Unter dem Namen „My Right Is Your Right“ haben sich vor einigen Monaten Kulturschaffende, Anwälte, Gewerkschafter, Nachbarschaftsinitiativen und Asylbewerber zusammengeschlossen. „Was mein Recht als Deutsche ist, sollte das Recht jedes Menschen sein“, beschreibt eine Unterstützerin die Kampagne. Ulu ist überall mit dabei. Er hat an einem Magazin mitgearbeitet, das Flüchtlinge herausgegeben haben, und unterstützt die Besatzer der Gerhart-Hauptmann-Schule, die das Gebäude gegen den Willen der Stadt in ein Flüchtlingszentrum umwandeln wollen. Am 18. März, dem internationalen Tag gegen Rassismus, ist eine Demonstration geplant. Für Ulu ist der Protest noch nicht vorbei. Angesichts seiner Perspektivlosigkeit bleibt dem Flüchtling nichts anderes übrig.

    Chronologie des Protests

    Januar 2012: Nach dem Suizid eines Flüchtlings in einem Würzburger Asylbewerberheim kommt es zu monatelangen Demonstrationen in der Innenstadt. Asylbewerber treten aus Protest in den Hungerstreik und nähen sich die Lippen zu.

    September 2012: Rund 50 Flüchtlinge starten einen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin. Zeitgleich gibt es eine Bustour durch mehrere Städte.

    Oktober 2012: Protestmarsch und Bustour sind in Berlin angekommen und lassen sich auf dem Oranienplatz nieder. Für einen weiteren Hungerstreik ziehen sie vor das Brandenburger Tor.

    Dezember 2012: Wegen des bevorstehenden Winters besetzen die Flüchtlinge eine leer stehende Schule in der Nähe des Platzes.

    Juni 2013: Parallel zu den Berliner Protesten beginnt der Hungerstreik am Rindermarkt in München. Nach acht Tagen wird das Camp von der Polizei geräumt.

    März 2014: In Berlin verlassen die Flüchtlinge den Oranienplatz freiwillig, nachdem sie sich mit der Stadt geeinigt haben. Der Senat sagt ihnen zu, jeden einzelnen Fall auf ein mögliches Aufenthaltsrecht für Berlin zu prüfen.

    Juni 2014: Ein Großteil der Flüchtlinge zieht aus der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule aus. Etwa 45 Bewohner leben bis heute im Gebäude.

    Februar 2015: Alle 576 Verfahren sind abgeschlossen. Laut Innenverwaltung wurden nur drei Aufenthaltserlaubnisse erteilt, zwölf Flüchtlingen wird eine Duldung gewährt.

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