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Birgit blinzelt

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Birgit blinzelt

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    Das ist jetzt: Birgit Hofmann lebt in der Arche, einem Pflegewohnheim in Würzburg.
    Das ist jetzt: Birgit Hofmann lebt in der Arche, einem Pflegewohnheim in Würzburg. Foto: Foto: Daniel Biscan

    Birgit spricht nicht mehr. Birgit will sprechen, aber ihr Mund kann nicht mehr. Birgit ist stumm. Kein Wort, nur Laute. Stumm. Aber nicht sprachlos. Denn wenn Birgit blinzelt, sprechen ihre Augen Bände.

    Es ist der 21. November 1997, Freitagabend. Birgit Hofmann, 32 Jahre alt, Betriebswirtin, geht mir ihren Freunden ins Theater und fährt sie anschließend nach Hause. Es ist ein Uhr früh, es ist dunkel, als sich plötzlich ein Presslufthammer durch Birgits Kopf fräst. So empfindet sie es. Kurz schlenkert sie auf die Gegenfahrbahn, fängt sich aber sofort wieder. Ihre Freunde steigen aus, ohne etwas zu bemerken. Birgit will nur noch heim, in ihre kleine Wohnung in München-Schwabing. Sie wirft sich aufs Sofa. Ihr ist übel, so übel, dass sie sich ins Bad schleppt und sich übergibt.

    Warum fühlt sich mein Körper nur so lahm an?

    Mühsam schält sie sich aus ihrem Kostüm. Birgit ist kalt. Sie robbt ihren schlaffen Körper zurück ins Wohnzimmer, dreht die Heizung auf, robbt weiter ins Schlafzimmer und will sich ihren orangefarbenen Pulli überstülpen. Einen Ärmel schafft sie noch, dann versinkt ihr Körper in einen Dornröschenschlaf, und auf Birgits Geist legt sich ein dicker weißer Nebel.

    Die Zeit kriecht. Samstag. Sonntag. Noch immer liegt Birgit vor ihrem Bett auf dem Boden, einen Arm in ihrem orangefarbenen Pulli. Ihr Körper schläft, nicht aber ihr Harndrang, und so pinkelt sie in die Bettdecke. Sie hört das Telefon klingeln und ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter: „Im Moment bin ich leider nicht zu Hause.“

    Hab Geduld, Birgit, keine Angst. In einer Woche kommen Mama und Papa aus Würzburg und finden dich. Alles wird gut.

    Birgit ist zuverlässig. Als sie am Montag nicht auf der Arbeit erscheint, schickt ihr Chef einen Azubi vorbei. Der spitzt durch die Fenster ins Parterre und sieht Birgit dort liegen. Auf dem Boden vor dem Bett, mit einem Arm in dem orangefarbenen Pulli, in den sie 60 Stunden zuvor schlüpfen wollte.

    Dann geht alles schnell. Sirenen heulen, Sanitäter hetzen, Intensivstation.

    Vielleicht ist es wieder die verflixte Manie und ich muss in die Psychiatrie. Aber auch das geht wieder vorbei.

    Die Diagnose lautet Locked-in-Syndrom. „Sie ist geistig völlig fit, aber ihr Körper ist bis auf die Lider gelähmt“, verkünden die Ärzte ihren Eltern. Über Birgits Arme kann Gänsehaut huschen, aber sie kann niemanden umarmen. Birgits Finger kann jucken, aber sie kann sich nicht kratzen. Birgits Magen kann knurren, sie selbst aber ist stumm.

    Etwa 1000 Menschen in Deutschland leiden am Locked-in-Syndrom. „Birgit Hofmann ist ein klassischer Fall“, sagt Michael Deckelmann, der Birgit seit zehn Jahren medizinisch betreut. „Der Auslöser war eine Thrombose im Gehirn“, erklärt Deckelmann. Die Folge: Birgit Hofmann ist halsabwärts gelähmt, kann nur Lider und Mund bewegen. „Eine Verbesserung ihres Zustands ist nahezu ausgeschlossen.“

    Birgits Vater ist auf der Arbeit, als sein Telefon klingelt. „Walther, wir müssen nach München, der Birgit ist was passiert.“ Noch am selben Tag rasen Walther Hofmann und seine Frau Helga ins Krankenhaus. Stundenweise wachen sie an Birgits Bett, während ihre Gedanken Achterbahn fahren. „Ich habe da an alles und nichts gedacht“, erzählt Walther Hofmann, „am schlimmsten aber war diese verflixte Was-wäre-wenn-Schleife.“

    Wenn sie Birgit früher gefunden hätten, wenn es unter der Woche oder wenn es auf der Straße passiert wäre . . . „Oder wäre es vielleicht sogar besser, wenn Birgit gar nicht mehr aufwacht?“, denkt er, während seine Tochter im Medikamentennebel schwebt. „Birgit war ein fröhlicher Mensch, hat das Leben genossen, studiert und auf einmal – alles umsonst.“

    Ich will sterben.

    Das denkt ihr Kopf. Ihre Gedanken rasen, aber Birgits Körper blinzelt nur. Sie schläft und wacht. Intensivstation, Reha, mehr Medikamente.

    Ich bin davon überzeugt, dass eine höhere Kraft mich beherrscht.

    Birgits Sinne fliegen auf dem Medikamententeppich in andere Welten, in der Sanitäter sie in Benzin baden und Patienten im Ofen verbrennen.

    Mutti, ich habe Angst, dass sie mich für tot erklären und ich nichts sagen kann.

    In ihren Träumen fallen Birgit alle Zähne aus, wachsen krumm und schief nach. Bis die Ärzte die Medikamente absetzen und Birgit aufwacht.

    Jetzt heißt zweimal blinzeln „Ja“. Ein Augenaufschlag „Nein“. Willst du? Soll ich? Ja, nein, ja, nein. Ohne Wenn und Aber. Birgit lauscht den Worten anderer und hört die Zeit schleichen.

    Fahr mit mir nach Holland, Mutti, dahin, wo aktive Sterbehilfe erlaubt ist.

    Helga Hofmann weigert sich und so blinzelt Birgit weiter. Ja, nein, ja nein. Nach einem halben Jahr lernt sie endlich die Buchstabentafel und kann über ihren Lidschlag Sätze diktieren. Drei Jahre später hat Birgit endlich das geschafft, was jedes Kind kann. Sie sagt „ah“. Ein Laut, eine Silbe, die so viel bedeutet. Jetzt kann Birgit auf sich aufmerksam machen, wenn sie etwas mitteilen möchte, wenn sie Hunger hat oder an einen anderen Platz gerollt werden will.

    Draußen flattern die Vögel in der Sonne. Birgit sitzt in ihrem Zimmer an den Rollstuhl geschnallt mit dem Rücken zum Fenster. Es muss etwas hinter ihr sein. Immer. Das gibt ihr Halt, Kontrolle über einen Körper, der schmerzt, wenn er fällt, aber nicht gehorcht, wenn sie sich abfangen will. Manchmal, nachts, muss Birgit stundenlang weinen, bis die Nachtschwester sie hört und Birgit umbettet, damit ihr Körper sie schlummern lässt.

    Seit 13 Jahren wohnt sie in der Arche, einem Pflegewohnheim für Menschen mit Behinderung in Würzburg. Ihr Zwei-Zimmer-Appartement gleicht dem einer Studentin. Fotoalben und Kuscheltiere im Regal, CDs durchnummeriert in einer Kiste, die Wände sind mit Kalendern gepflastert: „Trauminseln“, die heute nur noch Birgits Fantasie bereist.

    Früher folgte Birgit der Sonne wie eine Motte dem Licht. Kalifornien, Mexiko, Südfrankreich. Über 40 Reisen in 16 Jahren. Früher – ein gewaltiges Wort, denn „früher“ teilt ihr Leben in zwei Welten. Vor und nach dem Unfall. Früher, als Birgit Informatik, Sprachen und Betriebswirtschaftslehre studierte, als sie in Würzburg, München und Paris lebte. Früher, als Birgit einen Verehrer nach dem anderen hatte und manchmal auch gleichzeitig.

    Heute sitzt vor Birgit eine ihrer Studentinnen. Sie sind Birgits verlängerter Arm, fahren mit ihr in den Supermarkt, Klamotten kaufen, färben ihr die Haare, sobald unter ihrer blonden Mähne ein dunkler Ansatz schimmert, oder schreiben auf, was Birgit diktiert. Seit 2009 ist Birgit wieder ihr eigener Vormund, ihre Briefe an Behörden, Betreuer oder Freunde verfasst sie selbst im Kopf.

    „Erste Reihe, zweite“, Birgit blinzelt, und so beginnt Lilian Kain die zweite Reihe der Buchstabentafel herunterzurattern: „i, j“, ihr Blick flattert immer wieder von der Tafel zu Birgit. „I?“ Birgit blinzelt. Es ist wie ein schneller Schusswechsel. „A, b, c?“ Birgit blinzelt und ihre Augen tanzen im Kreuzfeuer. Nicht abschweifen, nicht wegsehen, oder das Wort zerbirst in seine Einzelteile. „Ich?“ Birgit blinzelt. „Ich will?“, fragt Lilian, aber Birgit schlägt die Augen auf. „Ich möchte?“ Birgit blinzelt. Bei ihrer Wortwahl ist sie eigen.

    Zwei Minuten später weiß Lilian, dass Birgit ein Stück Schokolade möchte. Es raschelt, als sie die verschiedenen Sorten aus der Verpackung fischt. „Dunkle Schokolade?“ Birgit schlägt die Augen auf. „Erdbeere, Vollmilch“, Birgit blinzelt. Also schiebt sie ihr ein Stück Vollmilch in den Mund. Birgit lacht. Sie liebt Schokolade. „Ahah“, stöhnt sie und sofort greift Lilian zur Buchstabentafel. „Das ist mein Abendessen“, blinzelt Birgit, „ich möchte zwei Kilo abnehmen für den Sommer.“ „Weil da der Samy kommt?“, fragt Lilian, und Birgit gluckst wie ein verlegener Teenager.

    Samy ist Birgits französischer Ex-Freund und ein Teil ihres bewegten Lebens. Kurz vor ihrem Unfall wollte er sie heiraten, Birgit beendete die Beziehung. Heute besucht er sie jedes Jahr. Für die Zeit zwischen seinen Besuchen hängt er auf Fotopapier, muskelbepackt und sonnengebräunt, direkt neben Birgits Bett.

    Birgit ist froh, dass sie nicht Ja gesagt hat, als Samy vor ihr kniete. Sie ist glücklich, blinzelt sie, so wie früher oder anders. „Wahrscheinlich wären wir sowieso schon wieder geschieden“, blinzelt sie und lacht. Sie lacht gern, so wie früher, nur anders.

    Birgits Papa klopft an die Tür, tritt ein und streicht seiner Birgit übers Haar. Dreimal die Woche besucht er sie. Kurz nach Birgits Schlaganfall verkündeten die Ärzte, Birgit würde ihre Eltern niemals überleben. Birgits Mutter Helga ist 2004 gestorben.

    Die Angst, was wird, wenn auch er sie nicht mehr besuchen kommen kann, wiegt schwer, sagt Walther Hofmann. „Papa sieht mein Schicksal tragischer als ich.“ Birgit, zwinkert ihrem Vater zu. Ihr Vater winkt ab, sein Mund lächelt, nur seine Augen nicht. Was nur soll einmal werden? „Ich bin robust“, blinzelt Birgit.

    Locked-in-Syndrom

    Das Locked-in-Syndrom bezeichnet einen Zustand, bei dem ein Mensch in der Regel zwar bei klarem Bewusstsein, körperlich aber vollständig oder fast vollständig gelähmt ist. Der Betroffene kann alles in seiner Umgebung hören und verstehen, er kann sich aber auf herkömmliche Weise nicht mitteilen. Die Verständigung über Augenbewegungen kann er erlernen. Betroffene bezeichnen die Krankheit als ein inneres Gefängnis, der Körper ist die Mauer. Das Locked-in-Syndrom kann als Folge eines Schlaganfalls, eines Leidens wie ALS, einer anderen Krankheit oder aber auch als Folge eines Unfalls auftreten. Auch FSME, die Frühsommer-Meningoenzephalitis nach einem Zeckenbiss, ist als Ursache für das Locked-in-Syndrom möglich. Durch intensive Rehabilitation ist es möglich, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. TEXT: MAR

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