Bevor du nicht den Yangtze befahren hast, bist du noch nirgendwo gewesen“, sagt ein chinesisches Sprichwort. Yangtze-Kreuzfahrten zählen zu den größten Touristenattraktionen in China, für Einheimische wie Ausländer gleichermaßen. Doch die Reise von Chongqing flussabwärts ist heute eine andere als die, die das Sprichwort meinte. Aus dem wild strudelnden Fluss, der durch enge Schluchten schäumte, ist ein breiter gleichmäßiger Strom geworden, an manchen Stellen so ausladend wie ein See. Seit der Vollendung des Drei-Schluchten-Dammes ist der Landschaftscharakter ein anderer.
185 Meter hoch und fast zweieinhalb Kilometer breit ist die 2006 fertiggestellte gewaltige Barriere aus Stahlbeton. Geschätzt über 20 Milliarden Euro hat die Volksrepublik in das gewaltige, aber auch umstrittene Bauprojekt investiert. Offizielle Zahlen zu den Kosten gibt es nicht, sie werden gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Der Aufwand habe sich gelohnt, sagen die staatlichen Planer und führen vier Argumente an.
Der Fluss bekam mehr Tiefgang. Nun können selbst 10 000 Tonnen schwere Frachter vom Meer bis nach Chongqing ins Landesinnere fahren – eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das größte Wasserkraftwerk der Welt soll das nach Energie hungernde Land jährlich mit 85 Milliarden Kilowattstunden Strom versorgen. Was der Leistung von rund zehn Atomkraftwerken entspricht. Der gestaute Fluss ist berechenbarer, verheerende Hochwasser sollen Geschichte sein. 1935 und 1954 ertranken 170 000 Chinesen, als die Dämme brachen. Zudem sei der gewaltige, 600 Kilometer lange Stausee ein wichtiger Baustein für die Wasserversorgung des Nordens.
Derzeit müssen erneut Hunderttausende ihre Heimat verlassen und Platz machen für riesige Kanäle. Über drei Süd-Nord-Verbindungen soll das Wasser des Yangtze dem von Austrocknung bedrohten Gelben Fluss zugeleitet werden. Damit werde die Trinkwasserversorgung Pekings gesichert, verspricht die Staatspropaganda. Internationale Experten wie der Deutsche Bernd Wünnemann dagegen sind skeptisch. Über die gewaltige Distanz von rund 1300 Kilometern würden große Mengen verdunsten. Trinkwasserspeicher aber müssten sich selbst regenerieren können, mahnt Wünnemann.
Trocknet Peking aus?
Doch das wasserarme China zapft schon längst seine fossilen Reserven an, über 20 000 Jahre altes Wasser in tiefen Erdschichten. Einmal verbraucht, werden diese Reservoirs nie mehr aufgefüllt. Peking, befürchten manche Klimaforscher, droht die Verwüstung. Die Sanddünen von Gobi sind nur noch 200 Kilometer entfernt. Der Grundwasserspiegel sinkt jährlich um über einen Meter. Die Lage sei dramatisch, sagt Hartwig Streusloff vom Fraunhofer Institut. Als Berater der Pekinger Stadtregierung empfiehlt er beispielsweise, die Felder künftig mit geklärten Abwässern und nicht mehr mit Grundwasser zu gießen. Wenn Peking sein Wasserproblem nicht löse, müsse die Hauptstadt in den nächsten 50 Jahren verlegt werden, berichten selbst staatliche Medien. Um das zu verhindern, versucht die Führung, die Natur nach ihrem Willen zu formen – so wie den über 6000 Kilometer langen Yangtze.
Für das Drei-Schluchten-Projekt mussten über 1,5 Millionen Menschen umgesiedelt werden. Ihre Heimat, rund 1500 Dörfer und Städte, versank in den Fluten. Krass sei das, findet Andreas Achatz, österreichischer Hotelmanager auf dem luxuriösen Kreuzfahrtschiff Century Diamond, und wird nachdenklich. In einer europäischen Demokratie hätte man so ein gewaltiges Projekt nie in so kurzer Zeit umsetzen können.
Auch das alte Fengdu, für die Taoisten das Tor zur Unterwelt, liegt nun unter Wasser. Fast 200 Meter bergaufwärts wurde das neue Fengdu aus dem Boden gestampft. Den jungen Leuten gefalle es, behauptet eine örtliche Reiseführerin. Die neuen Häuser seien viel komfortabler, hätten fließend Wasser, Strom. Nur die Rentner vermissten ihre versunkene Heimat.
Längst nicht alle mussten nur den Berg hinaufziehen, als das Wasser stieg. Hunderttausende wurden über die ganze Volksrepublik verteilt, einige mussten bis zur Mündung des Yangtze nach Shanghai umziehen. Statt in den Bergen leben sie nun in Hochhäusern in der Ebene. Am dramatischsten zeigt sich der Wechsel in Xiling, der letzten der drei Schluchten. Früher war sie die gefährlichste, berüchtigt für ihre Sandbänke und gewaltige Felsbrocken im Strom, die das Manövrieren zu einem Abenteuer machten. Ende des 19. Jahrhunderts liefen in einem einzigen Jahr über 300 Schiffe auf Grund. Die Schiffe mussten an Winden gegen die Strömung flussaufwärts gezogen werden, stets patroullierten kleine Rettungsboote.
Verändertes Kleinklima
Das ist Geschichte. Heute hat die Century Diamond 150 Meter Wasser unterm Kiel. Der Yangtze sei längst nicht mehr so gefährlich, sagt Kapitän Tang Jian. Seit fast 30 Jahren befährt er den Fluss. Es gebe nicht mehr so oft Nebel, das Wetter sei stabiler – Folge des durch den gestiegenen Wasserstand veränderten Kleinklimas in den Schluchten.
Schon Mao Zedong habe von einem Staudamm am Yangtze geträumt, erzählt Reiseführerin Chang Min auf dem Oberdeck des Kreuzfahrtschiffes den Touristen. Doch die Probleme hatte der große Führer nicht vorhergesehen. Noch immer sind die Umsiedlungen entlang des auf 600 Kilometer gestauten Flusses nicht abgeschlossen. Bergrutsche vertreiben ständig Menschen, die eigentlich hätten bleiben sollen. Zudem ging wertvolles Ackerland verloren. Die Schluchten ernähren heute viel weniger Bauernfamilien als früher. Und die verbliebenen Wohnflächen in der Dammregion gehören heute zu den am dichtesten besiedelten Regionen im überbevölkerten China.
Das Schlimmste steht aber möglicherweise erst bevor. Das steigende Wasser hat auch Fabriken überflutet und spült nun Giftstoffe aus dem Boden. Zudem sind noch viele Kläranlagen nicht fertiggestellt, der in den Stausee gezwängte Fluss droht zur Kloake zu werden. Da aus dem tibetischen Hochland nicht das ganze Jahr gleichmäßig Wasser nachströmt, fällt und steigt der Pegel alle sechs Monate um 30 Meter. Das führt zu Erosion und in der Folge zu Erdrutschen. Einige chinesische Experten fordern deshalb, den Stausee nicht mehr bis zu seinem Maximum aufzufüllen. Dann aber würde weniger Wasser durch das Kraftwerk fließen und die Energieerzeugung deutlich fallen.
Doch trotz aller Probleme will China noch mehr Energie aus seinen Flüssen quetschen. Erst im Frühjahr teilte Peking mit, dass auch der Oberlauf des Brahmaputra in Tibet gestaut werden soll. Seitdem schrillen in Indien und Bangladesh die Alarmglocken. Dort versorgt der Brahmaputra Hunderte Millionen Menschen mit Wasser. Sollte das weniger werden, drohen Hungerskatastrophen, berichtete das indische Fernsehen. Der Mekong lieferte dieses Jahr bereits so wenig Wasser wie seit Menschengedenken nicht. Bei einer Mekong-Konferenz in Bangkok im Frühjahr zeigten die Anrainerstaaten mit dem Zeigefinger auf China. Auch diesen Strom hat die Volksrepublik am Oberlauf gestaut.