Die Tür des Autos ist leicht zu öffnen. Die beiden auf den Vordersitzen sind einander zugewandt. Friedlich zeigen sie sich – halb liegend, halb sitzend. Wie ein Liebespaar. Aber zum Glück spielen Gefühle keine Rolle. Fakten sind entscheidend. Daten, die in einer Tausendstel Sekunde gemessen werden. Von Hochgeschwindigkeitskameras, die jede Zuckung festhalten. Zum Glück sind die zwei im Inneren des Opel Astra keine Menschen. Denn sie wären sonst tot. Stattdessen müssen zwei mit Sensoren ausgestattete Puppen herhalten, die in Form und Gewicht Erwachsenen entsprechen. Die Dummys demonstrieren im Dienste der Unfallforschung, was passiert, wenn ein Auto mit gut 60 Stundenkilometern gegen einen anderen Wagen prallt und Fahrer wie Beifahrer nicht angeschnallt sind.
Im Technik-Zentrum des ADAC in Landsberg ist das Lampenfieber spürbar. Mehrere Dutzend Scheinwerfer gehen nacheinander an. Eine Lampe allein kommt auf 1000 Watt, die gesamte grelle Lichterbatterie bringt es auf 300 Kilowatt. Es wird ziemlich schnell heiß unter dem Lampenschirm. Steht ein Auto nur wenige Minuten darunter, dann wirft der Lack Blasen, die Polster im Wagen beginnen zu rauchen und Kunststoffe am Fahrzeug schmelzen.
Das Licht aber wird nicht so lange angeschaltet bleiben. Es dient nur dazu, die Stelle auszuleuchten, an der der Opel in der Crashtest-Anlage des ADAC auf eine hellblaue Barriere trifft. Die besteht aus vielen Aluwaben und verformt sich so wie ein Fahrzeug. Nichts soll den teuren Filmkameras und Fotoapparaten verborgen bleiben, die bis zu 1000 Bilder in der Sekunde machen.
Rund 600 Fahrzeuge haben bislang die letzten Sekunden ihrer Laufzeit in der Crash-Halle in Landsberg zugebracht. Einer der jüngsten Tests simuliert diesen Unfall mit Insassen, die auf den Gurt verzichtet haben.
„Zwar ist es um die Anschnallbereitschaft in Deutschland mit 97 Prozent gut bestellt“, sagt Andreas Rigling. Doch der ADAC-Projektleiter weiß auch, dass jeder fünfte Getötete in einem Auto nicht angeschnallt war. Deshalb hält es Rigling für durchaus relevant, den Menschen vor Augen zu führen, welche verheerenden Folgen ein Unfall ohne den Schutz eines Sicherheitsgurtes haben kann.
Routiniert präparieren Techniker und Ingenieure das Fahrzeug. Mit den Vorbereitungen wird zwei bis drei Tage vor dem Unfall begonnen. Eine dicke Datenleitung ragt aus einer der Rückleuchten des Opels. Der Tank ist leer, damit vom Benzin keine Gefahr ausgehen kann. Rund 70 Meter steht das Auto jetzt vom Crash entfernt. Die zwei Dummys werden an markanten Stellen wie der Nase mit Farbe bemalt. Dort, wo die Nasen im Auto wenige Minuten später aufprallen werden, zeigen sich farbige Abdrucke.
Es wird ernst. Die Lichter auf Höhe der Aluwaben-Barriere gehen an. Gelbe Signalleuchten verkünden stumm in der Halle: Jetzt ist Vorsicht geboten! Eine Sirene liefert die akustische Ergänzung für dieselbe Botschaft. Die Augenzeugen des simulierten Crashs hören nach der Sirene aber etwas anderes. Ein leises Surren, das von einem Stahlseil erzeugt wird. Es ist in die Schiene eingelassen, auf der das treibstofflose Fahrzeug gezogen und auf 64 Stundenkilometer beschleunigt wird. Auf diese Geschwindigkeit haben sich verschiedene Crash-Labore geeinigt, damit die Tests europaweit vergleichbar sind.
Das von einem Hydraulikmotor angetriebene Endlosseil ist im Unterboden des Unfallautos eingehakt. Wenige Meter vor dem Hindernis wird der Haken ausgehängt. Nahezu geräuschlos rast der Wagen in das Hindernis. Doch dann wird die Ruhe durch einen ohrenbetäubenden Knall zerrissen. Die Front des Wagens wird eingedrückt. Es riecht nach leicht verschmortem Metall. Kleine Rauchsäulen steigen auf. Es ist das Talkumpulver, das die ausgelösten Airbags geschmeidig hält und sich nun in Luft auflöst.
Danach ist Totenstille. Niemand der Beteiligten sagt etwas, weil jeder in dem eingespielten Team weiß, was zu tun ist. Kameraleute gehen nah an das vor allem an der Front deformierte Auto und machen rundum ihre Bilder, die später auf verschiedenen Internetkanälen zu sehen sein werden. Ein Techniker befestigt Kabelbinder an den Türgriffen. Einige Minuten danach wird daran ein Kraftmessgerät gehängt, um zu erkennen, wie groß der Aufwand ist, um die Türen zu öffnen.
Er ist nicht groß. Äußerlich ist dem verwendeten Vorgängermodell des aktuellen Opel Astra angesichts des heftigen Aufpralls gar nicht so viel passiert. Das lässt sich über die Dummys nicht behaupten. Was das menschliche Auge nicht erfassen kann, liefern die vielen Beweisbilder, die eine Sekunde in tausend Teile zerlegen. Der Fahrer ist gegen das Lenkrad geprallt. Das konnte der Airbag ohne die Unterstützung durch den Gurt nicht verhindern.
Der Rückprall ist so stark, dass sich die Hinterräder heben und sich der Wagen trotz des Frontalaufpralls leicht seitwärts dreht. Außerdem stoßen die Köpfe von Fahrer und Beifahrer mit hohem Tempo zusammen – wie zwei Kokosnüsse, nur dass die Baumfrucht dicker geschützt ist als das Hirn etwa im Schläfenbereich.
Der Innenraum des als sicher geltenden Fahrzeugs ist nicht durch den Unfall verformt, sondern durch die Insassen selbst. Der Fahrzeuglenker hätte sich im realen Unfall bis zu den Oberschenkeln ins Armaturenbrett gebohrt. Zahlreiche Brüche von den Füßen bis zum Becken wären die Konsequenz.
„Einmal mit einem Auto gegen die Wand fahren und schon haben Sie alles erklärt“, sagt Versuchsingenieur Johannes Heilmaier, der die Crash-Anlage leitet. Die Unfalltests lassen Heilmaier nicht abstumpfen – im Gegenteil. „Sie wecken erst das Bewusstsein, worauf es ankommt; zum Beispiel, den Gurt vor jeder Fahrt anzulegen.“
Vor der Gefährlichkeit des Autofahrens schreckt der Fachmann jedoch nicht zurück. „Wichtig ist, ein paar Grundregeln zu beherrschen: den notwendigen Abstand halten, konzentriert sein und sich nicht von Handy oder dem Zigarettenanzünder ablenken lassen und mit dem angemessenen Tempo fahren.“
Die Crash-Versuche im Landsberger Technik-Zentrum des ADAC verfehlen ihre Wirkung nicht. So sollte vor wenigen Jahren ein chinesisches Fabrikat auf dem deutschen Markt platziert werden. Die bei den Tests aufgedeckten Sicherheitsmängel waren aber so eklatant, dass sich für das Auto trotz des günstigen Preises keine Abnehmer fanden.
Seit rund fünf Jahren setzt sich der Automobilclub stark dafür ein, den Unterfahrschutz bei Lastwagen zu verbessern. Eine in bewegten Bildern festgehaltene Testserie belegt, dass der Schutz für Pkw-Insassen bei einer Kollision nicht ausreicht und auch einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2007 nicht entspricht. Das Auto rutschte bei einem Auffahrunfall viel zu weit unter den Lastwagen, die Fahrgastzelle wurde bis zur hinteren Tür komplett zerstört. Eine einfache und effektive Möglichkeit, lebensbedrohliche Verletzungsgefahren zu minimieren, sind aus Sicht des ADAC zusätzliche Schrägstreben. Auch Lkw-Fahrer selbst seien bei Unfällen nur schlecht geschützt, weil ihnen eine Knautschzone fehle. Bei Herstellern und dem Gesetzgeber warb der ADAC deshalb für die serienmäßige Ausstattung mit automatischen Notbremssystemen.
„Sicherheit und Qualität im Verkehr – das sind ganz dicke Bretter“, sagt Reinhard Kolke, der Leiter des seit inzwischen 15 Jahren bestehenden ADAC-Technik-Zentrums. Aber das Bohren dieser Bretter lohne sich, findet Kolke, der über sich und seine Kollegen sagt: „Wir sind schon alle Überzeugungstäter.“ „Vordenker für mobile Themen“ wollen sie in Landsberg sein. Und die Vergangenheit hat aus Sicht des studierten Maschinenbauers und Hochschullehrers Kolke bewiesen, „dass man von hier aus auch Dinge bewegen kann“.
Daten zum Technikzentrum Landsberg
Das Technik-Zentrum des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC) liegt am Rande von Landsberg in unmittelbarer Nähe zur A 96. Das Areal ist mehr als 25 000 Quadratmeter groß, etwa 150 Ingenieure, Techniker, Schulungsexperten und Servicekräfte arbeiten dort.
Autotest: In den 15 Jahren seit der Gründung des Zentrums wurden rund 2200 Autos geprüft – ungefähr 150 pro Jahr. Dabei werden 347 Einzelkriterien bewertet.
Eco-Test: 1459 Autos wurden einem Umwelttest unterzogen. Im Abgaslabor werden Schadstoff-Ausstoß, Verbrauch und klimarelevante Kohlendioxid-Emissionen gemessen, die Kraftstofferzeugung wird mitbewertet.
Crashtest: Bei 600 Crashtest-Fahrzeugen wurden frontale Unfälle, Seitencrashs, Pfahlaufpralle, der Zusammenprall von zwei Fahrzeugen oder der Aufprall auf ein mobiles Hindernis simuliert und Überschlagversuche gemacht. 18 Dummys sind im Einsatz. Kindersitztest: Die Ergebnisse werden in 20 Ländern Europas zeitgleich veröffentlicht. 400 Kindersitztypen und 2500 Sitze wurden schon überprüft.
Reifentest: Ihn gibt es seit beinahe 40 Jahren. Seit der Eröffnung des Technik-Zentrums wurden rund 1000 Reifenmodelle geprüft.
Werkstatt: Die Pannenhilfsfahrzeuge der 1700 „Gelben Engel“ in Deutschland werden in Landsberg ausgerüstet. Pro Jahr sind es zwischen 220 und 250 neue Fahrzeuge.
Pannenhilfe: Für die rund 18,2 Millionen ADAC-Mitglieder ist Landsberg eine von fünf Pannenhilfezentralen. Zuständigkeitsbereiche sind Bayern und Baden-Württemberg.
Weitere Aufgaben: Neben der Unfallforschung, in der der ADAC mit Polizei, Justiz und Kliniken zusammenarbeitet, betreffen weitere Projekte u.a. die Rettungskarte, ABS für Motorräder, Tachobetrug sowie Motorradkleidung und -helme.