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Das Grauen von Utoya

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Das Grauen von Utoya

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    Blumenmeer als Zeichen der Trauer: Nach dem Massaker auf der Insel Ut?ya legten Norweger vor der Kathedrale von Oslo Blumensträuße nieder.
    Blumenmeer als Zeichen der Trauer: Nach dem Massaker auf der Insel Ut?ya legten Norweger vor der Kathedrale von Oslo Blumensträuße nieder. Foto: Foto: rtr

    Das sommerlich träge Osloer Regierungsviertel glich auf einmal einer Kriegszone. Die Fjordinsel Utoya verwandelte sich zur tödlichen Falle für Hunderte junge Sozialdemokraten, die sich plötzlich in der Gewalt eines Massenmörders befanden. Am Ende verloren 77 Menschen bei den zwei Anschlägen des rechtsradikalen Islamhassers Anders Behring Breivik am 22. Juli ihr Leben.

    Seitdem findet das traumatisierte Norwegen nur langsam in die Normalität zurück. Zum Jahresende sagt Harald Stanghelle, Chefkommentator bei der Zeitung „Aftenposten“: „Wir sind wieder im Alltag zurück, aber alles andere als fertig mit der Verarbeitung des Verbrechens.“ Tatsächlich vergeht praktisch kein Tag ohne neue Schlagzeilen zu dem beispiellosen Anschlag.

    Psychiater streiten über die Zurechnungsfähigkeit des inhaftierten Attentäters. Abriss oder Sanierung des von Breivik zerbombten Regierungshochhauses werden gefordert. Die Verfassung des Täters in der Haftanstalt Ila ist ein Dauerthema für die Medien. Und die Hinterbliebenen der meist jugendlichen Opfer müssen Schlagzeilen verkraften wie: „Weihnachtsgeschenke für Breivik im Gefängnis“.

    Die Details der Tat sind für viele bis heute unfassbar. Sonne und Sommerferien waren für die Norweger angesagt, als der 32-Jährige einen Lieferwagen mit 950 Kilo Sprengstoff vor der Regierungszentrale abstellt. Hier hat Ministerpräsident Jens Stoltenberg im 16. Stock sein Büro.

    Breivik geht als Polizist verkleidet zu einem in der Nähe geparkten Auto. Dort liegen eine Maschinenpistole, eine Pistole und Unmengen an Munition in einer Kiste bereit für den zweiten der über Jahre vorbereiteten Anschläge. Der blonde Einzelgänger führt beide aus und versetzt Norwegen in einen albtraumartigen Ausnahmezustand:

    15.22 Uhr: Breivik zündet die Bombe in seinem Auto. Acht Menschen sterben. Während die Behörden weitere Anschläge in Oslo befürchten, fährt der Attentäter zum 40 Kilometer entfernten Tyrifjord. Er setzt in Polizeiuniform auf die Insel Ut?ya über.

    17.15 Uhr: Zu den ersten Opfern bei dem Massaker gehören der Polizist Trond Bernsten und die Betreuerin Monica B?sei, die Alarm schlagen wollen. Danach macht der Mörder Jagd auf die in panischer Angst nach Verstecken suchenden Jugendlichen.

    18.00 Uhr: Breivik ruft das erste Mal bei der Polizei an und will sich ergeben. Es ist niemand da, der ihn festsetzen könnte.

    18.25 Uhr: Eine Antiterroreinheit aus Oslo erreicht die Insel. Der Attentäter lässt sich ohne Gegenwehr festnehmen. Erst am folgenden Morgen teilt die Polizei den Umfang des Mordens mit: 69 Tote, fast alle Teenager oder knapp älter.

    So unfassbar hoch die Zahl auch war: Durch die Bombe in Oslo und beim Massaker auf Ut?ya hätte es noch viel mehr Tote geben sollen und geben können. Die Bombe vor dem Regierungshochhaus detonierte nur teilweise und vor schon weitgehend leeren Büros. Vor Ut?ya retteten mutige Helfer vom Festland aus zahlreiche Flüchtende aus dem Wasser.

    Während Breivik auf Schwimmende schoss, die zu fliehen versuchten, konnte der deutsche Urlauber Marcel Greif 20 bis 30 Jugendliche in seinem kleinen Motorboot in Sicherheit bringen. Der 32-Jährige hatte sich auf einen schönen Urlaub mit Eltern und Cousin am Tyrifjord gefreut. Doch dann brach das Grauen über die Idylle in Norwegen herein. Als Salven aus einer automatischen Schusswaffe zu hören waren, ging Greif hinunter zu einem Platz direkt am See. Da sah er schon, wie verzweifelte Menschen ins Wasser sprangen und um Hilfe riefen. „Ich habe gar nicht mehr überlegt. Keine Sekunde mehr verlieren“, erzählt Greif. Er lief zu dem kleinen Bootsanleger des Campingplatzes, sprang in sein rotes Boot und startete den Motor. „Es war traumhaft zu sehen, wie die sich gegenseitig unterstützt und dann gesagt haben: ,Nimm nicht mich, nimm sie oder nimm ihn. Sie oder er kann nicht mehr, ich kann noch.'“ Greif brachte die erste Gruppe an Land, wo seine Familie wartete, um die Überlebenden zu betreuen. Er fuhr gleich wieder auf den See, nahm Menschen auf – gerade so viele, wie das Boot verkraften konnte, ohne zu sinken.

    „Die schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ nannte Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg das, was Breivik mit seinem Hass auf islamische Zuwanderer und sozialdemokratische Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft angerichtet hatte. Der 52-jährige Regierungschef fand dann aber auch einen völlig neuen Ton für die Verarbeitung von Terroranschlägen. Er forderte seine Landsleute zu noch mehr Toleranz auf und enthielt sich jeder Form von aggressiven Äußerungen. „Die Antwort Norwegens auf Gewalt ist immer mehr Offenheit, mehr Demokratie“, sagte Stoltenberg am 27. Juli. Norwegens Kronprinz Harald rief vor hunderttausend Trauernden aus: „Heute sind Oslos Straßen mit Liebe gefüllt.“

    Der Massenmörder sitzt in einer kleinen Einzelzelle der Haftanstalt Ila und wartet auf seinen Prozess im Frühjahr. Als ihn zwei Rechtspsychiater im November für unzurechnungsfähig erklärten, waren die Reaktionen geteilt. Hatte Breivik doch seine Verbrechen über Jahre systematisch vorbereitet und in einem 1500 Seiten dicken „Manifest“ auch handfest politisch begründet. „Bei der Zurechnungsfähigkeit ist das letzte Wort ganz bestimmt nicht gesprochen“, meint „Aftenposten“-Kommentator Stanghelle.

    Dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, gilt für viele Fragen. Kritisch diskutieren die Norweger, warum die Polizei nach dem ersten Notruf so lange brauchte, um nach Ut?ya zu kommen. Die Regierung kündigte inzwischen an, dass das schwer beschädigte Regierungshochhaus wohl komplett abgerissen wird.

    Für den Prozess gegen Breivik ab 16. April 2012 haben sich mehrere Hundert Hinterbliebene und Überlebende als Zuschauer angemeldet. Zum Jahrestag am 22. Juli 2012 soll er abgeschlossen sein. Entweder mit der wahrscheinlich lebenslangen Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie oder der Höchststrafe für Mord in Norwegen: 21 Jahre Haft.

    Die Insel Utoya

    Rund 40 Kilometer von Oslo entfernt liegt die norwegische Insel Utoya im Tyrifjord. Die idyllische Insel, die zum Ort des Massakers wurde, ist nur rund 500 Meter lang, ihre breiteste Stelle misst weniger als 400 Meter. Der Großteil des Eilands ist bewaldet, außerdem gibt es ein paar Wiesen und Häuser. Die Insel nahe des östlichen Seeufers ist ein regelmäßiges Ausflugsziel der sozialdemokratischen norwegischen Jugendorganisation AUF. Jeden Sommer organisiert sie dort ein Ferienlager für Hunderte Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Norwegen. Internationale Gäste sind manchmal auch dabei, zudem gibt es Besuche von prominenten Politikern wie zum Beispiel Ministerpräsident Jens Stoltenberg oder Künstlern.

    Umfangreicher Rückblick: Was außer dem Massaker in Norwegen noch die Schlagzeilen in 2011 bestimmte: www.mainpost.de/2011

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