Manchmal geht die Debatte an die Seele. Jerzy Montag entrüstet sich, dass der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse den Begriff „Selektion“ benutzt gegen die Absicht von Montag und anderen Abgeordneten, die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Grenzen auch in Deutschland zuzulassen. Also die Untersuchung von Embryonen, die außerhalb des Mutterleibes in der Petrischale gezeugt wurden, auf Erbkrankheiten, bevor sie in den Uterus eingesetzt werden.
„Dieser Begriff erinnert an dunkelste Kapitel“, ruft der Grünen-Abgeordnete empört aus. „Es verbietet sich, Frauen, die in großer Not sind, zu unterstellen, es ginge ihnen um Selektion.“ Montag ist Sohn eines polnischen Juden und empfindlich bei solchen Worten. Als er an seinen Platz im Bundestagsplenum zurückgeht, kommt Thierse zu ihm, wahrscheinlich um sich zu erklären.
Der SPD-Mann ist der stärkste Redner der PID-Gegner. Im Stakkato hält er den Befürwortern ziemlich schlagende Gegenargumente vor. Erstens, zweitens, drittens. Zum Beispiel, dass sie zwar von einer begrenzten Zulassung der Untersuchungsmethode reden, aber keine klare Grenze, keinen Krankheitskatalog definieren können. Das soll eine Ethikkommission erledigen. Und Thierse sagt, dass die PID eine „Qualitätsprüfung menschlichen Lebens“ sei und damit ein „fundamentaler Paradigmenwechsel“.
Unionsfraktionschef Volker Kauder unterstützt Thierse. Fraktionsgrenzen gibt es bei dieser emotionalen Debatte nicht. Schon mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, sagt Kauder mit fast geschlossenen Augen, beginne die Würde des Menschen. „Es geht hier nicht um eine Abwägung von Für und Wider, es geht darum, die Ethik des Lebens durchzusetzen.“ Obwohl von vielen Rednern solche Gegensatzpaare formuliert werden, ist es keine Debatte nach dem Gut-Böse-Schema.
Eine Ausnahme stellt ausgerechnet die letzte Rednerin dar, Sozialministerin Ursula von der Leyen. Nach behutsamem Beginn, in dem sie aus ihrer Erfahrung als Ärztin über die Verzweiflung vieler Paare spricht, sagt sie plötzlich, wer für das Totalverbot von PID sei, stehe für Bevormundung, die Seite der Befürworter hingegen für den mündigen Bürger. Da guckt Kauder in der ersten Reihe ziemlich finster auf seine Parteifreundin. Bevormundung? „Unter der Gürtellinie“, findet die unterfränkische CSU-Abgeordnete Dorothee Bär, die zusammen mit Thierse und Kauder den Verbotsantrag stellte. „Das war schwach und unnötig“, sagt Bär nach der Debatte über von der Leyens Beitrag. Der Antrag der PID-Befürworter sei keiner für die Selbstbestimmung der Eltern, „sondern für die Selbstbestimmung einer Ethikkommission“.
Wird PID dazu führen, dass die Eltern sich „Designerbabys“ besorgen, „dass aus Kinderwünschen Wunschkinder werden“, wie der Linken-Abgeordnete Ilja Seifert formuliert? Wird dann Behinderung gesellschaftlich geächtet werden, nach dem Motto: Warum habt ihr dieses Kind nicht verhindert, es gibt doch PID? Dieser Vorwurf schwingt bei fast allen PID-Gegnern mit. Bei Seifert wirkt er besonders stark, weil er behindert ist, querschnittsgelähmt seit einem Badeunfall mit 16 Jahren. Viele Behinderte hätten jetzt „schlichtweg Angst“ und sagten sich: „Wenn es PID gegeben hätte, gäbe es mich nicht.“
Das wiederum geht Peter Hintze an die Seele, der die stärkste Rede für die Befürworter der PID hält. Wer je mit Betroffenen zu tun gehabt habe, der wisse, dass Begriffe wie „Designerbaby“ meilenweit an der Wirklichkeit vorbeigingen, sagt der CDU-Mann. Den Vorwurf an die Befürworter, sie würden Behinderte nicht achten, empfinde er persönlich als das Schlimmste“. Viele im Saal wissen, dass Hintze selbst ein behindertes Kind hat.
Die Befürworter der Untersuchungsmethode berufen sich auf die reale Situation der betroffenen Eltern. Sie haben den Vorteil, sehr drastische Fälle vortragen zu können, etwa von einem Paar, dass eine genetische Disposition in sich trägt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer schweren Erbkrankheit beim Kind führen kann. Zwei Totgeburten gab es bereits. Darf man dieses Paar zwingen, eine dritte Schwangerschaft zu probieren, obwohl es die Möglichkeit einer vorherigen Untersuchung gibt? „Nicht die Ethik der Strafe, sondern die Ethik des Helfens macht unsere Gesellschaft menschlicher“, sagt Hintze, der wie sein Gegenspieler Thierse Theologe ist. Der Glaube also ist bei dieser Debatte kein sicheres Unterscheidungsmerkmal.
Es gibt einen dritten Antrag. Er sieht im Prinzip das PID-Verbot vor, will aber eine einzige Ausnahme zulassen, nämlich wenn eine Totgeburt sehr wahrscheinlich ist. Der von dem Sozialdemokraten René Röspel formulierte Text hätte wohl das Zeug zu einem Kompromiss gehabt. Doch er hat die wenigsten Unterstützerstimmen, muss quasi im ersten Durchgang schon durchfallen, sodass dann nur noch über die über die beiden Hauptalternativen entschieden wird. Doch anders als erwartet bringt dieser erste Wahlgang sogar gleich die Entscheidung. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten – unter anderem der CSU-Abgeordnete Michael Glos, der im Vorfeld „noch unentschlossen“ gewesen war – befürwortet die bedingte Freigabe der Präimplantationsdiagnostik. Es gibt Beifall, als das überraschende Ergebnis bekannt wird. Aber keinen Jubel. Und die Unterlegenen schweigen bedrückt.