Die Rate steigt. Das ist das, was alle sagen, und im Knäuel aus Ursachen, Auswirkungen und Interessengruppen liest sich die Kaiserschnittrate wie der Aktienkurs von Apple: Stetig nach oben. Noch 1991 lag die Rate in Deutschland bei 15 Prozent, aktuell kommen in Deutschland rund 32, in Bayern rund 34 Prozent aller Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Jedes dritte Kind also, obwohl laut WHO ein Kaiserschnitt nur bei jedem achten bis zehnten Kind nötig wäre. Ist der Kaiserschnitt bequemer, ist er notwendig? Und wer hat überhaupt ein Interesse daran?
Die Hebammen, soviel ist offensichtlich, haben keines. Wenn Astrid Giesen, Vorsitzende des Bayerischen Hebammenverbandes, über Kaiserschnitte redet, dann mit der Entschlossenheit von jemandem, der schon viel darüber diskutiert hat: Seit Jahren protestieren die Hebammenverbände gegen die hohe Rate. „Es ist ein Problem, das die ganze Gesellschaft betrifft“, sagt Giesen. „Ein Kaiserschnitt kostet die Krankenkassen wesentlich mehr Geld. Und er ist gesundheitlich nicht unbedenklich.“ Denn der Schnitt könne nicht nur für die Mutter, sondern auch für das Kind langfristige Folgen haben. „Bei einem Kaiserschnitt werden beim Kind die Lungen nicht trocken“, erklärt Giesen. Denn das Wasser in den Lungen wird bei einem Kaiserschnitt nicht wie bei einer normalen Geburt herausgepresst. Nach aktuellen Untersuchungen leiden daher etwa zehn Prozent der Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kamen, später an Atemwegsproblemen.
Außerdem fehlen den Neugeborenen wichtige Bakterien, die sie vor Infektionen schützen. Mögliche Folgen: Häufigere Allergien, höhere Anfälligkeit für Krankheiten. „Es muss ein anderes Bewusstsein in der Bevölkerung geben“, sagt Susanne Steppat, Präsidiumsmitglied des Deutschen Hebammenverbandes. „Ich habe kürzlich in einem Chat gelesen: Ein Kaiserschnitt ist doch viel würdevoller.“ Man brauche wieder ein Bewusstsein für die natürliche Geburt. Soweit die Sicht der Hebammen.
Dieter Kranzfelder, Chefarzt in der Missionsärztlichen Klinik Würzburg, ist nicht überrascht, dass sich die Hebammenverbände so vehement gegen den Kaiserschnitt aussprechen. „Eine Hebamme darf den Kaiserschnitt nicht ausführen. Und je mehr Kaiserschnitte es gibt, umso mehr gehen ihnen normale Geburten verloren.“ Bei den technischen Neuerungen in der Geburtshilfe verlieren die Hebammen als Erste ihre Aufgabenfelder. Die neutralen Expertinnen, als die sie häufig dargestellt werden, sind sie nicht. In Bezug auf die Risiken aber geben die meisten Experten den Hebammen recht.
Die hohe Rate hänge mit dem Zeitgeist zusammen, sagen viele. „Man will nicht mehr so gern Schmerzen aushalten“, meint Chefarzt Kranzfelder. „Und die Mütter haben mehr Angst, sie sind mehr auf Sicherheit bedacht.“ Durch das höhere Alter seien auch die Risiken gestiegen. Daher gehe man oft mit Kaiserschnitt auf Nummer sicher. Giesen argumentiert ähnlich: „Es herrscht ein höheres Sicherheitsbedürfnis. Alles soll planbarer sein. Viele Familien haben nur ein Kind, sie wollen, dass es gesund ist.“
Entsprechend war in den letzten Jahren viel vom Wunschkaiserschnitt zu lesen, vom Eingriff nach Plan. Auf dem Portal www.eltern.de berichtet eine Mutter über ihren geplanten Kaiserschnitt mit Schlagworten wie: „Babyglück nach Zeitplan“, „ohne Angst auf die Geburt warten“, „wach, aber schmerzfrei“. Zwar muss grundsätzlich ein Arzt die medizinische Notwendigkeit eines Eingriffs bestätigen. Aber „es ist zu viel verlangt, zu kontrollieren, ob es tatsächlich medizinisch notwendig war“, so Ann Marini, Sprecherin beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen. „Wir können das nicht beurteilen.“
Die Krankenkassen zahlen also auch den Wunschkaiserschnitt. Doch der spielt wohl eine geringere Rolle als allgemein angenommen: Laut einer Studie der Gmünder Ersatzkasse von 2005 halten nur etwa zwei Prozent der deutschen Frauen Wunschkaiserschnitte für die bessere Entbindungsform. „Wunschkaiserschnitte sind hier kein großes Thema“, sagt auch Dieter Kranzfelder von der Missionsärztlichen Klinik. „In Würzburg vielleicht ein bis zwei Prozent.“
Arndt Hönig, stellvertretender Direktor der Uniklinik, bewertet es „schon als eine gewisse Modeerscheinung“, aber nicht als Hauptursache. Denn offenbar sind es häufig die Ärzte, die den Müttern zum geplanten Kaiserschnitt raten. „Die Medizin ist viel defensiver geworden“, so Kranzfelder. In einem Risikokatalog gelten zum Beispiel über 35-Jährige automatisch als Risikoschwangere. „Bei Komplikationen neigt man schnell zum Kaiserschnitt.“ In einer zunehmend sicherheitsbedachten Gesellschaft sei der Druck so hoch, dass man sich oft vorauseilend für einen Kaiserschnitt entscheide – häufig, wie er einräumt, unnötigerweise. Soweit die Perspektive der Ärzte.
Doch Sicherheit sei für die Kliniken nicht das einzige Argument, sagen die Hebammen. Laut dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen bekommen Kliniken in Deutschland für einen Kaiserschnitt durchschnittlich 2400 Euro – für eine normale Geburt mit Beleg-Hebamme dagegen gibt es nur 1500 bis 1700 Euro. Mehr Geld für eine Prozedur, die obendrein schneller erledigt und leicht zu planen ist. „Ich will niemandem etwas unterstellen“, sagt Giesen, „aber Krankenhäuser sind Wirtschaftsunternehmen.“ Auch Stephan Mayer, Sprecher der Techniker Krankenkasse in Bayern, sagt: „Es ist natürlich ein Reiz da.“
Chefarzt Dieter Kranzfelder räumt ein, solche Argumente könnten eine Rolle spielen: „Wenn man in einer Klinik Minimalbesetzung hat, wird man versuchen, die Geburten unter die Woche zu legen. Auch mehr Geld kann im Einzelfall eine Rolle spielen.“ Arndt Hönig von der Uniklinik sagt: „Die normale Geburt wird nicht gut genug bezahlt. Man müsste sie aufwerten, um die Kaiserschnittrate zu senken.“ Eine weitere Rolle spiele die Angst. Denn seit Jahrzehnten gibt es wegen fast jedem Geburtsfehler Klagen. „Es gibt viele Gerichtsverfahren“, sagt Susanne Steppat vom Hebammenverband. „Für Kaiserschnitte“, fügt sie vielsagend hinzu, „wird man in der Regel nicht verklagt.“ Pro Jahr gibt es etwa 110 Klagen wegen geburtshilflicher Fehler, die Schadenaufwendungen sind in fünf Jahren um mehr als 50 Prozent gestiegen. Für schwere Geburtsschäden zahlt man bis zu 500 000 Euro Schmerzensgeld. Von wem gehen die Klagen aus? „Oft von den Krankenkassen“, sagt Steppat. „Häufig von den Krankenkassen“, sagt Kranzfelder. „Meist von den Eltern“, sagt Stephan Mayer von der Techniker Krankenkasse.
Die Krankenkassen bilden die vierte große Partei. Für sie bedeuten Kaiserschnitte höhere Kosten, und diese, so der Vorwurf von Hebammen und Ärzten, wolle man durch Klagen wieder herein holen. „Das Geld aus den Klagen steht den Krankenkassen zur freien Verfügung“, so Susanne Steppat. Mayer bestreitet einen Zusammenhang: „Wir nutzen Klagen nicht, um Kosten zu refinanzieren.“ Man klage nur, wenn elementare Fehler da seien: „Wenn ein Arzt ordentlich arbeitet, hat er nichts zu befürchten.“ Dieter Kranzfelder hingegen sagt: „Die Krankenkassen wollen die Kosten auf uns umverteilen. Aber irgendwann ist das System nicht mehr zu finanzieren.“
Durch die vielen Klagen ist die Haftpflichtversicherung von Ärzten und Hebammen in die Höhe gegangen. Die Folge: Übergroße Vorsicht und noch mehr Kaiserschnitte. „Niemand will uns mehr versichern“, sagt Kranzfelder. „Die Haftung kann nicht an einer Berufsgruppe hängen“, so Giesen. Die Hebammenverbände haben einen steuerlichen Fonds für Haftungsfälle vorgeschlagen. Unsinn, meint dagegen Arndt Hönig von der Uniklinik. „So ein Fonds würde bei den Klägern erst recht Begehrlichkeiten wecken.“
So bleibt die wichtigste Frage bestehen: Wie kann die Rate gesenkt werden? Aufklärung, sagen viele, stehe an erster Stelle. Mittelfristig aber, da sind sich ausnahmsweise alle einig, wird die Rate weiter nach oben gehen. Um den Trend zu stoppen, müsse die Regierung eingreifen: Durch ein Gesundheitsziel, durch Neuregelung der Haftung, durch bessere Bezahlung von normalen Geburten. „Es ist letztlich“, sagt Steppat, „eine politische Entscheidung.“