Nicht die Zubereitung von Tees, Tinkturen oder Salben gehört zu den Hauptaufgaben der Forschergruppe Klostermedizin, es ist die Theorie. „Wir arbeiten mit alten Texten und versuchen herauszufiltrieren, was sinnvoll sein könnte“, sagt Dr. Johannes Gottfried Mayer. Der Leiter der 1999 gegründeten Forschergruppe, die zum Institut für Geschichte der Medizin an der Uni Würzburg gehört, sucht in mittelalterlichen Handschriften und frühen Buchdrucken auch nach verloren gegangenem Wissen.
Mayer und sein Team sind Historiker, Germanisten und Philologen, aber auch Pharmazeuten und Botaniker. Und wenn sie von der Theorie in die Praxis übergehen und konkret Vorschläge machen, gegen welche Zipperlein dieses oder jenes Kraut gewachsen ist, hat das nichts mit Quacksalberei zu tun. „Wir geben Anregungen, was mit modernen pharmakologischen Methoden näher untersucht werden sollte.“ Wir, das sind neben Mayer die Apothekerinnen Heike Will und Katharina Mantel, der Sprachwissenschaftler Konrad Goehl sowie der Mönch und Botaniker Hermann Josef Roth. Auch Professor Bernhard Uehleke gehört dazu, der in Berlin Naturheilverfahren erforscht; ebenso Pfarrer Kilian Saum, er leitete viele Jahre die Krankenabteilung des Klosters Sankt Odilien bei Straßburg. Mit diesen beiden Experten hat Mayer gerade „Das große Buch der Klosterheilkunde“ neu bearbeitet (siehe Infotext).
Nicht alles, was einst als Naturheilmittel anerkannt war, findet heute noch Verwendung. Mayer rät zum Beispiel von der eigenmächtigen Verwendung der Wolfsmilchgewächse ab, was im Mittelalter bei Magenschmerzen „gang und gäbe“ gewesen sei. „Der Milchsaft der Esels-Wolfsmilch ist hochgiftig und kann Krebs auslösen.“ Weniger problematisch, weil nur leicht toxisch, sei die Sonnen-Wolfsmilch. „Deshalb wird sie in der Homöopathie und in der Traditionellen Chinesischen Medizin verwendet.“
Die heilenden Inhaltsstoffe der Schafgarbe bei Wunden sind jedoch seit Jahrhunderten anerkannt. „Das aus dem Kraut gewonnene ätherische Öl wirkt entzündungshemmend, die Bitterstoffe regen den Appetit an, die Gerbstoffe haben einen keimhemmenden und blutstillenden Effekt“, so Mayer. Hildegard von Bingen kannte noch mehr Einsatzmöglichkeiten: Sie empfahl bei inneren Verletzungen die Pflanze zu pulverisieren und mit warmem Wasser zu trinken. Wobei die berühmte Ordensfrau nicht durch Herumexperimentieren zu ihrem Wissen gelangte. Johannes Mayer ist sich sicher, dass sie „aus der Volksheilkunde geschöpft“ hat. Die hochgebildete Hildegard kannte aber auch die gängigen Medizintheorien ihrer Zeit. Etwa die Vier-Säfte-Lehre aus der Antike. Sie geht auf den griechischen Arzt Hippokrates zurück. „Entsprechend den vier Elementen der Erde – Feuer, Wasser, Luft und Erde – und ihren Eigenschaften und Temperamenten unterteilt diese Lehre die Natur des Menschen nach den Säften, die im Körper dominieren“, so Mayer. Dementsprechend gibt es Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker – je nachdem, ob mehr oder weniger gelbe oder schwarze Galle, zäher Schleim oder heißes Blut vorhanden sind. Befinden sich die Säfte nicht im Gleichgewicht, wird der Mensch krank. Laut Mayer orientiert sich die Klostermedizin an diesen Grundsatz: dass für das körperliche und seelische Gleichgewicht die Ausgewogenheit der Säfte beziehungsweise Elemente entscheidend ist.
Immer wieder stoßen die Würzburger Forscher in den alten Schriften auf die Vier-Säfte-Lehre. Beispielsweise bei Werken, die im Hochmittelalter in der berühmten Schule von Salerno entstanden sind. Sie orientierte sich an antiken Erkenntnissen, interpretierte sie zum Teil neu und hat laut Johannes Mayer die Klosterheilkunde, die ihre Blütezeit zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert hatte, stark beeinflusst und ihr neue Impulse gegeben. Berühmte antike Schriften sind zum Beispiel die „Naturkunde“ von Plinius oder die „Materia medica“ des Dioskurides. Aus dem Mittelalter ragt das um 795 entstandene Lorscher Arzneibuch hervor. Zum populärsten Kräuterbuch des Mittelalters zählt Johannes Mayer den „Macer floridus“ des Benediktiners Odo Magdunensis. Mit Hildegard von Bingens bedeutenden Werken „Physica“ und „Causae et curae“ endet die Epoche der Klosterheilkundeliteratur. In der Neuzeit und nach der Erfindung des Buchdrucks wandelten sich die Klöster in Produktionsstätten für Medizinprodukte. Nach der Säkularisation 1803 ging auch die Klostermedizin unter – und erlebte in den vergangenen Jahren ihre Renaissance – durch Hildegard von Bingen. Seit gut zehn Jahren wird auch der Widerstand der Schulmedizin gegenüber der Naturheilkunde immer geringer. Für viele ist „die sanfte Medizin“ eine Bereicherung oder willkommene Ergänzung, weil sie den ganzen Menschen, also auch das seelische Befinden miteinbezieht, wie einst Hildegard.