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Ein Schrei, der nicht mehr enden will

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Ein Schrei, der nicht mehr enden will

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    Unfassbarer Schmerz: Am 11. März 2009 beginnt für viele Menschen in Winnenden ein Albtraum, den sie bis heute nicht überwinden können.
    Unfassbarer Schmerz: Am 11. März 2009 beginnt für viele Menschen in Winnenden ein Albtraum, den sie bis heute nicht überwinden können. Foto: Foto: DPA

    Noch immer versucht sich Annabell (16) zu erinnern. Nicht an den 11. März 2009, als es geschah. Diese Erinnerung ist glasklar. Nein, sie will sich erinnern an den Tag davor. Den 10. März. Der Tag, an dem ihre Welt noch in Ordnung war. Als Winnenden noch eine ganz normale idyllische Kleinstadt, 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, war. Und nicht DAS Winnenden, das heute jeder kennt. An diesem 10. März gibt Annabell ihrer Schwester Jana abends im Wohnzimmer den üblichen Gute-Nacht-Kuss. Sie ist müde und schläft schnell ein. Am nächsten Tag wird es keinen Gutenachtkuss mehr geben. Winnenden befindet sich im Ausnahmezustand. Und Jana ist tot. Erschossen von Tim Kretschmer, einen 17-jährigen ehemaligen Schüler der Albertville-Realschule. Janas Schule.

    Annabell Schober hat das, was sie in den Stunden vor und nach dem Amoklauf erlebt hat, zusammen mit fünf anderen Schülerinnen und Schülern sowie einer Lehrerin in einem Buch geschildert. „Die Schüler von Winnenden – unser Leben nach dem Amoklauf“ ist mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Daniel Oliver Bachmann entstanden und 2013 in der Reihe „Mein Leben“ im Würzburger Arena Verlag erschienen. Es wird bereits in einigen Schulen als Klassenlektüre genutzt. Denn was in Winnenden passiert ist, kann in jeder Schule in Deutschland passieren.

    Jana war 15, als sie starb. 15 ist auch die Zahl der Menschen, die der Amokläufer in Winnenden und Wendlingen erschossen hat. Annabell ist elf Jahre alt, als sie in endlosen quälenden Stunden zu Hause auf ihre Eltern und auf Jana wartet.

    Im Fernsehen sieht sie weinende Schüler, entsetzte Augenzeugen und einen tief betroffenen Bundespräsidenten Horst Köhler, der den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl ausspricht.

    „In diesem Moment kommen meine Mama und mein Papa nach Hause zurück. Ohne Jana. Beide weinen. Ich stürze auf sie zu. Papa sagt: ,Jana geht es nicht gut.' Meine Stimme ist ganz leise, als ich frage: ,Aber sie ist doch nicht tot?' Zuerst sagt Papa nichts. Dann sagt er: ,Doch.' Es dauert eine ganze Weile, bis ich verstehe, was das bedeutet. Dann kommt ein Schrei aus meiner Kehle, wie ich noch nie einen vernommen habe. Die ganze Anspannung, die furchtbare Warterei, meine Angst, alles steckt da drin. Der Schrei will gar nicht mehr aufhören. Es ist, als ob ich versuche, damit Jana noch einmal zu erreichen.“

    Die verstörenden Stunden am 11. März 2009 sind für Außenstehende ein abstraktes Geschehen. Doch das Lesen im Buch wird zum Selbsterleben. Fast unerträglich nah ist man als Leser am Geschehen dran, kann die Schüsse hören, die Angst fühlen. Man versteht plötzlich, warum Jennifer und viele andere Schüler lange Zeit nicht mehr mit einer Tür im Rücken oder in der Nähe einer Tür dem Schulunterricht folgen können. Versteht, warum Jennifer nicht mit dem Tod ihrer Referendarin Frau Schüle fertig werden kann. Frau Schüle, die vor Jennifer stand, als der Täter sie durch die geschlossene Tür hindurch erschoss.

    Oder Marie aus der 10. Klasse, die an diesem Tag mit ihrer Freundin die Plätze getauscht hat und im ersten Moment, als der Täter in der Tür steht und schießt, an einen Abschlussscherz glaubt, gleichzeitig aber weiß, dass das nicht sein kann, weil ihre Klasse doch die Abschlussklasse ist.

    „Ich kann sehen, wie meine Mitschüler sich auf den Boden werfen, und auch meine Freundin und ich liegen plötzlich dort. Haben wir uns fallen lassen? Wurden wir getroffen? Wir liegen im Löffelchen, ich habe mich leicht aufgestützt, meine Hand liegt mit gespreizten Fingern auf dem Bauch meiner Freundin. Und der Junge schießt. Und schießt. Und schießt. Er schießt auch auf meine Freundin. Wahrscheinlich ist sie sofort tot, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich normalerweise an ihrem Platz gesessen hätte.“

    Ungefiltert und ungeschönt nimmt das Buch den Leser mit in das Leben von sechs Menschen vor und nach dem Amoklauf. Menschen, deren Seelen tief verletzt worden sind. Den Opfern eine Stimme geben, ist auch Ziel des Würzburger Arena-Verlages.

    „Mit unserer Reihe ,Mein Leben' wollen wir ein Bewusstsein für schwierige Lebensläufe von jungen Menschen schaffen. Wir bringen Themen auf den Tisch, über die niemand gerne spricht, aber die niemals in Vergessenheit geraten dürfen“, so Pressesprecherin Susanne Baumann. Das Buch gibt es seit kurzem auch als Taschenbuch.

    „Die Schüler von Winnenden“ ist unter der ISBN: 978-3-401-50345-5 erhältlich und kostet 6,99 Euro. Kostenloses Unterrichtsmaterial für Schulen gibt es beim Arena Verlag in Würzburg unter Tel. (09 31) 7 96 44-0 oder online unter www.arena-klassenlektueren.de

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