Trauernde sind innerlich oft weit weg, obwohl sie äußerlich mitten unter uns sind. Zu Beginn ihres Buchs „Wohin denn ich“ schreibt Marie Luise Kaschnitz, Jahre nach dem Tod ihres Mannes, über die Zeit ihrer Trauer: „Eines Tages bin ich zurückgekommen, zurück woher, davon werde ich später sprechen, jetzt nur so viel sagen, dass ich fort war, lange und weit fort.“ Trauernde sind innerlich manchmal weit fort, und sie sind es oft für lange Zeit. Sie sind nicht aus freien Stücken „fort“, sie wären lieber da, wo sie waren, bevor der Tod alles veränderte, wären lieber in ihrem alten Leben, so wie früher. Aber dieses alte Leben existiert nicht mehr. Tod und Trauer haben sie auf diesen neuen, einsamen und oft langen Weg geschickt, den sie jetzt gehen müssen.
Die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz (1901-1974), die durch Gedichte, Hörspiele und erzählende Prosa bekannt wurde und 1955 mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet wurde, beschäftigte sich intensiv mit den Themen Tod und Trauer. 1958 starb ihr Mann an einem Gehirntumor.
In vielen Büchern, die Kaschnitz nach seinem Tod geschrieben hat, ist die Erfahrung des Verlusts ein immer wiederkehrendes Thema, besonders in der Gedichtsammlung „Dein Schweigen – Meine Stimme“ (1962), die in den ersten Jahren nach dem Tod ihres Mannes entstand, in den Büchern „Tage, Tage, Jahre“ (1968), „Orte“ (1973) und in dem Prosaband „Wohin denn ich“ (1963), der beschreibt, wie Kaschnitz nach Jahren der Verlorenheit langsam wieder im Leben Fuß fasst. Es sind Texte, die den Prozess des Trauerns in all seinen Facetten widerspiegeln.
Unterscheidet sich die Trauer von Schriftstellern von der anderer Menschen? Überhaupt nicht. Sie können nur besser in Worte fassen, wo anderen die Stimme versagt. Kaschnitz selbst schreibt hierzu in „Tage, Tage, Jahre“: „Hört mich, einen Menschen, nicht unähnlich euch selbst, empfindend, was ihr empfindet, erleidend, was ihr erleidet, vielleicht nicht einmal maßloser, nicht einmal heftiger als ihr, aber fähig auszusprechen, was ihr gerne aussprechen würdet, aber nicht auszusprechen wagt.“
Das Weiterleben unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes war für Kaschnitz nicht mehr als schlichtes Überleben. Sie versuchte weiterzuleben, indem sie dem, was ihr widerfahren war, Gestalt gab. Nicht nur, dass der Partner fehlte, auch die gesellschaftliche Rolle der allein Zurückbleibenden war nun eine andere. Über das Witwendasein bemerkt Kaschnitz, dass es als eine Art von Demütigung fast überall empfunden werde. In „Tage, Tage, Jahre“ schreibt sie hierzu: „Es scheint schon dem Überlebenden etwas Anrüchiges anzuhaften, etwas von üblem Lebenswillen und Lebenstrotz, zugleich auch etwas Verächtliches – sie hat ihren Mann verloren, wir haben unsere Männer noch, fahren zusammen ins Grüne, gehen zusammen durch die Straßen, das kommt doch nicht von ungefähr.“ Eine Witwe werde gestraft mit Vernachlässigung und gnadenhaften Einladungen.
Auch ihr Verhalten werde als störend und sonderbar empfunden, da sie ununterbrochen von ihrem geliebten Toten spräche: „Witwen und Verheiratete, das geht nicht zusammen, schon weil Witwen so etwas sind wie ein ewiges Memento mori, weil man ihnen allerhand böse Wünsche zutraut, sei nur nicht so stolz auf den Herren Gatten, eines Tages bleibst du auch allein.“
Die Trauer stört, verstört, weil sie auch Unbeteiligte mit dem Tod konfrontiert, dem ausnahmslos alle entgegensehen. Eine gewisse Zeit wird Trauernden meist zugestanden, um wieder „normal“ zu werden – aber nicht allzu viel davon. Auch Kaschnitz erfuhr diese Ungeduld mit Trauernden. In „Wohin denn ich“ berichtet sie, dass sie bei ihren Freunden einen Widerwillen gegen ihr Trauern verspürt, den sie in die Worte fasst: „Schwarzvogel, Klagevogel, schweig endlich oder stimme andere Töne an. Tatsächlich scheint es auch für Gefühle ein insgeheim festgesetztes Maß zu geben, was darüber hinausgeht, wirkt abstoßend und wie eine Ungesundheit, die sich weder zum Genesen noch zum Sterben entschließen kann.“
Die guten Ratschläge von Freunden empfindet Kaschnitz eher als Schläge denn als Rat: die ständigen Aufforderungen, zu verreisen oder etwas zu unternehmen, was sie von ihrem Verlust ablenkt und dergleichen Aufforderungen mehr. Sie gehöre nicht zu den Witwen, die jedes Jahr ihre kleine Reise machen, nach Spanien oder Kreta, im Hotelspeisesaal dann allein am Tisch sitzen und abends noch ein paar Schritte spazieren, schreibt sie in ihrem Buch „Orte“, und ergänzt: „Schon der Gedanke an eine solche Untersuchung löst Panikstimmung in mir aus, ich sehe mich an winzigen Tischchen sitzen und aufspringen und schreien.“
Im Jahr 1961 begab sich Kaschnitz erstmals wieder auf eine Lesereise durch Deutschland, unternahm auch eine Schiffsreise nach Südamerika, während der sie mit den Aufzeichnungen für „Wohin denn ich“ begann. In ihrem Buch „Orte“ berichtete sie später, dass sie während dieser Reisen noch nicht ganz bei sich gewesen sei, „geschweige denn bei der Welt da draußen, man begleitet die Toten ins Niemandsland, ein Stück des Wegs, ein großes Stück“.
Viele Trauernde finden es schlimm, wenn über den Menschen, den sie verloren haben, nicht mehr gesprochen wird. Wenn er totgeschwiegen wird, aus Verlegenheit oder aus falschem Taktgefühl. So ging es auch Marie Luise Kaschnitz. In „Tage, Tage, Jahre“ schreibt sie hierzu: „Sagt doch etwas, sprecht über ihn, er kann doch für euch nicht ganz tot sein, wie oft hat er hier gesessen oder gestanden, die Hände in den Taschen, an eure Bücherwand gelehnt. Warum tut ihr so, als ob es ihn nie gegeben hätte, warum erkundigt ihr euch nicht, wie ich alleine zurechtkomme, ich komme niemals zurecht.“
Auch wenn ein Mensch tot ist, lebt er weiter – in der eigenen Erinnerung und in der Erinnerung anderer. Das Bild eines Menschen verschwindet nicht mit seiner sterblichen Hülle. Es bleibt gegenwärtig in allen Menschen, die ihm nahestanden.
Aber wie lange? Dass die Toten erst wirklich sterben, wenn die letzten, die sie noch gekannt haben, nicht mehr am Leben sind, sei ihr längst klar gewesen, schreibt Kaschnitz in ihrem Tagebuch „Tage, Tage, Jahre“, ebenso „die furchtbare Härte, mit welcher zu diesem Zeitpunkt, also erst vielleicht fünfzig Jahre nach ihrem Tode, dann aber unwiederbringlich ihre Stimmen, Blicke, Bewegungen ausgelöscht werden“. Das Vergessen versucht Kaschnitz auch mit ihrem Schreiben aufzuhalten. Und hat doch Angst, irgendwann selbst zu vergessen, was gewesen war.
In „Orte“ bekennt sie 1973, dass sich ihre Trauer gewandelt habe: „Nach zwei Jahren des Entsetzens herrschte eine Art Frieden.“ Aber sie vermisse ihren Mann auch nach fünfzehn Jahren noch wie am ersten Tag. Kaschnitz beklagt, dass sein Bild in ihr immer undeutlicher werde, sie auch den Klang seiner Stimme nicht mehr herstellen könne.
Und sie spricht ihren toten Mann in ihrem Buch „Orte“ direkt an: „Wie du warst, eigentlich, frage ich mich manchmal und möchte dein Wesen fassen, auch schildern, um nicht am Ende doch Wichtiges aus dem Gedächtnis zu verlieren. Auch, um dich weiterleben zu lassen, weil jetzt, ein Dutzend Jahre nach deinem Tod, bereits niemand mehr nach dir fragt, was mich erstaunt und betrübt.“ Sie kämpft an gegen das „fürchterliche Vergessen“, gegen das langsame Verblassen der Erinnerung: „Kein Tag, an dem ich nicht an dich denke, ich lebe mit dir, das ist wahr. Aber, mit wem lebe ich, mit einem Schutzengel, mit einer Liebe, stumm, entsetzlich stumm.“
Da ist wieder dieser Widerspruch, den Kaschnitz aufzulösen versucht: Sie fühlt die Nähe ihres toten Mannes, aber er bleibt stumm, und sie versucht trotzdem, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, das innere Zwiegespräch nicht abreißen zu lassen. Doch diese Art der Kommunikation, die sich manchmal von selbst ergibt, oft aber auch gar nicht gelingen will, wird schwieriger von Tag zu Tag, je weiter die Zeit voranschreitet. Weshalb Kaschnitz versucht, Dinge zu beschreiben, um ihren Mann zu halten, aufzuhalten und irgendwie zurückzuhalten in dieser Welt.
Sie berichtet von der „kindischen Vorstellung“, die sich in ihrem Kopf festgesetzt habe von den Seelen der Toten, die sich zuerst langsam, dann immer schneller von der Erde entfernen.
Die gemeinsame Basis einer wie auch immer gearteten Kommunikation wird mit der Zeit immer dünner und brüchiger – auch, weil der Tote von den Veränderungen und neuesten Entwicklungen des Weltgeschehens nichts mehr mitbekommt: Der gescheite Gestorbene sei dümmer als der dumme Lebendige, der jeden Tag mit neuen Nachrichten gefüttert wird, schreibt sie in „Tage, Tage, Jahre“. Die alltäglichen Fragen, sie können nicht mehr gestellt werden, denn die Toten geben keine Auskunft.
Der Tod eines geliebten Menschen konfrontiert Hinterbliebene mit der Frage des Glaubens und der Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem eigenen Tod. Doch selbst wenn es ein solches Wiedersehen geben sollte, so bleibt dessen Form doch für den menschlichen Verstand unfassbar.
Weshalb Kaschnitz sich fragt: „Wenn ich sterbe, kann ich dich noch einholen, wie lang erkennst du mich noch? Treffen wir uns womöglich erst im Unendlichen, wo nicht mehr die persönliche Liebe, sondern nur die Liebe an sich, als ein Teil des göttlichen Wesens, gilt?“
Die Erinnerung pflegen, eine Verbindung aufrechterhalten – die Versuche, einer über den Tod hinaus fortwirkenden Beziehung Gestalt zu geben, unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. In „Wohin denn ich“ beschreibt Kaschnitz, mit welchen Ritualen andere ihrer Trauer Ausdruck geben, etwa durch das Aufstellen von Kerzen vor dem Bild eines Toten: „So stark mich dieser Liebes- und Erinnerungsdienst auch beeindruckte, ich hätte ihn doch schwer ausüben können, schon gar nicht vor deinem Bilde, ich hätte dich damit erst recht unter die Toten versetzt, wo du doch gar nicht hingehörst, wenigstens nicht, solange ich lebe und du in mir lebst“, bekennt sie.
In ihrem Gedichtband „Dein Schweigen – Meine Stimme“ thematisiert Kaschnitz die einschneidende Erfahrung des Verlusts. Im Gedicht „Einer von zweien“ bringt sie zum Ausdruck, dass sie immer noch als Teil eines Paars gesehen werden möchte. Fast schon wie ein Gebet klingen die Verszeilen: „In meinem Gedächtnis wohnst du / Mein Leib ist dein Haus …/ Ihr sollt in mir sehen / Einen von zweien / Und hinter meinen Worten / Unruhig horchen / Auf die andere Stimme.“ Dahinter steht der Wunsch, dass alle in ihr auch den toten Partner noch sehen, seine Stimme weiter hören sollen. „Was ich bewahren wollte, war das Eins- und Doppeltsein“, schreibt Kaschnitz, und in ihrem Gedicht „Dein Schweigen“ wird dieses Denken Programm in den Versen: „Dein Schweigen / Meine Stimme / Dein Ruhen / Mein Gehen / Dein Allesvorüber / Mein Immernochda.“
Es ist ein Aufeinander-Bezogen-Sein, auch über den Tod hinaus. Eine Nähe, die nicht mehr aufzuheben ist, wie Kaschnitz in „Wohin denn ich“ schreibt: „Ich hatte mich von dir entfernt und war dir nähergekommen. Ich hatte dich mit jedem neuen Atemzug tiefer in mich hineingerissen und wusste, dass ich dich nicht mehr verlieren konnte.“
Kaschnitz macht die bleibende Nähe zwischen ihr und ihrem Mann zum Thema, schreibt über dessen geheimnisvolle Gegenwart, die sie mit Zuversicht erfüllt. Sie wünscht, sie könnte klarer ausdrücken, worin diese Stärkung bestand, schreibt sie in „Wohin denn ich“ – eine Stärkung, die sie besonders intensiv spürte, wenn sie das Zimmer ihres Mannes aufsuchte. Aber sie bekennt, dass sie ihn auch an anderen Orten suchte: „Denn so viel war mir schon klar geworden, nämlich, dass ich dich immer noch suchte, und wahrscheinlich würde ich es niemals ganz erlernen, weil du noch da warst, nicht auf der Erde, aber in der Welt, wie wir sie begreifen an weniger kurzsichtigen und schwerhörigen Tagen: als einen Ort der Lebendigen und der Toten.“
Immer wieder spricht Kaschnitz in ihren Texten ihren Mann persönlich an. Was sie sagt, ist: Solange ich noch da bin, bist auch du weiter da. Ich trage dich in mir, und ich trage dich weiter, solange ich selbst lebe. Das ist ein tröstlicher Gedanke, und es ist nicht nur ein Gedanke, sondern eine lebendige Erfahrung, weil viele Trauernde es genauso halten mit ihren geliebten Toten. Kaschnitz gibt ihrer Trauer Worte und gestaltet diese Verbindung über den Tod hinaus aktiv, ordnet ihrem toten Mann einen neuen Platz in ihrem Leben zu, schreibt an gegen das Vergessen, lässt durch das Schreiben die Distanz zwischen ihr und ihm zusammenschrumpfen. So groß die Entfernung zwischen Lebenden und Toten auch sein mag: Eine Verbindung zwischen ihnen bleibt bestehen. Die innere Nähe hält diese Verbindung aufrecht.
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