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Experte Jörg Dräger erklärt, was sich am deutschen Schulsystem ändern muss

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Experte Jörg Dräger erklärt, was sich am deutschen Schulsystem ändern muss

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    „Wir müssen doch nicht 16 Mal das Rad neu erfinden“, sagt Jörg Dräger.
    „Wir müssen doch nicht 16 Mal das Rad neu erfinden“, sagt Jörg Dräger. Foto: Foto: Jan Voth

    Der promovierte Physiker war bis 2008 Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung. Heute ist er Bildungsvorstand der Bertelsmann-Stiftung, welche deutsche Schulstudien publiziert.

    Frage: Herr Dräger, wer aus einer wenig gebildeten und armen Familie kommt, hat in Deutschland so schlechte Bildungschancen wie kaum irgendwo sonst. Das weiß die Politik seit Jahren. Warum ändert sich nichts?

    Jörg Dräger: Zwei Botschaften hinterließ uns der Pisa-Schock Anfang des Jahrtausends: Deutschland war unterdurchschnittlich schlecht und der Bildungserfolg hing erheblich vom sozialen Status der Eltern ab. In der Leistung hat sich Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts vom unteren ins obere Mittelfeld vorgearbeitet, der Einfluss der sozialen Herkunft wurde geringer. Diese Fortschritte entwickeln sich aber leicht zurück. Das liegt zum Teil am Bildungssystem, zum anderen an unserer immer heterogeneren Gesellschaft.

    Sie meinen, dass jeder fünfte Schüler einen Migrationshintergrund hat?

    Dräger: Kinder mit Migrationshintergrund, die schon in Deutschland geboren sind, machen Fortschritte. Das ist extrem positiv. Die Zuwanderung ist aber eine Herausforderung für jedes Bildungssystem.

    Die Pisa-Studie zeigt, dass ein Fünftel der 15-Jährigen nur lesen und rechnen kann wie ein Grundschüler. Was droht diesen Schülern, wenn sie erwachsen sind?

    Dräger: Wer mit 15 solche Basiskompetenzen nicht erreicht hat, hat geringere Chancen, die Schule abzuschließen und einen Ausbildungsplatz zu finden. Das belastet die Gesellschaft. Sofern diese Schüler nicht gefördert werden, entstehen erhebliche Kosten in Form sinkender Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben. Damit endet das Problem nicht: Die Kinder dieser Schüler werden es wieder extrem schwer haben, nicht auf Grundschulniveau hängen zu bleiben. Bessere Bildung ist das entscheidende Werkzeug, um den Teufelskreis zu durchbrechen.

    Schule kann angeblich wenig ausrichten, wenn Eltern nicht mitziehen. Stimmt das?

    Dräger: Bildung und Erziehung bedeuten eine Partnerschaft zwischen Eltern und Schule. Nun gibt es aber Eltern, die ihren Teil der Partnerschaft nicht ausführen können oder wollen – und dann ist es die Aufgabe der Schule, mehr zu bieten als Mathe, Englisch und Deutsch. Wir sind ja auf dem Weg dorthin. Gute Ganztagsschulen sind aus meiner Sicht der wichtigste Hebel. Dort gibt es nicht nur bessere Fördermöglichkeiten, sondern auch Angebote wie Sport, Musik, Robotikkurse – Angebote also, die manche Eltern ihren Kindern nicht bieten können. Das kann mehr Bildungsgerechtigkeit ermöglichen.

    Zentral dafür sind aber gut ausgebildete Lehrer. Torpediert der Lehrermangel alle guten Ansätze?

    Dräger: Das ist im Moment der Kern des Problems. Wenn gute Lehrkräfte fehlen, ist kein guter Unterricht möglich. Allein bis zum Jahr 2025 fehlen an Grundschulen mindestens 26 000 Lehrer. Das Problem ist inzwischen auch seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) erkannt – aber schnelle Lösungen gibt es leider nicht. Zudem laufen gerade mehrere Entwicklungen parallel. Wir haben viel mehr Schüler, als vor noch nicht allzu langer Zeit prognostiziert wurde. Wir wollen die Ganztagsschulen ausbauen und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen lernen lassen. Auch das braucht mehr und weiter qualifizierte Lehrer. Wir stehen vor gigantischen Herausforderungen.

    Leiden auch hier vor allem die Schwächsten?

    Dräger: Der Lehrermangel ist in sozialen Brennpunkten und an Schulen, die kein Gymnasium sind, am dramatischsten – genau dort also, wo Schüler am meisten Hilfe bräuchten. Dort unterrichten auch die meisten Quereinsteiger.

    Deutschlands Kultusminister haben sich an diesem Donnerstag getroffen. Sie waren selbst sieben Jahre Senator für Wissenschaft und Forschung in Hamburg. Wie war Ihr Eindruck: Arbeiten die Minister sinnvoll zusammen?

    Dräger: Ich habe die KMK immer geschätzt, vor allem wenn wir die Chance genutzt haben, voneinander zu lernen. Der offene Austausch fand meistens eher im Kaminzimmer statt als in den offiziellen Sitzungen. Ich habe auch einmal die kanadischen Bildungsminister gefragt, wie sehr sie sich abstimmen. Sie meinten: „Nicht sehr viel, die guten Ideen diffundieren schon durch.“ Genau dieses Prinzip fehlt mir in Deutschland gerade, zum Beispiel jetzt bei der Diskussion um den Nationalen Bildungsrat.

    Was muss sich konkret ändern?

    Dräger: Der bayerische Ministerpräsident Söder hat sehr hart gesagt: „Wir wollen keine Angleichung der bayerischen Verhältnisse.“ Eine solche Sicht auf den Bildungsrat ist aber ein grundlegendes Missverständnis. Es geht doch nicht um niedrigere Standards, sondern um bessere Konzepte. Wenn die Bayern gut in Naturwissenschaften sind, die Schleswig-Holsteiner zeigen, wie man ein inklusives Schulsystem baut und eine Schule in Sachsen-Anhalt in der Digitalisierung vorne ist, dann kann man doch voneinander lernen. Wir müssen doch nicht 16 Mal das Rad neu erfinden.

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