Nur Walter Scheel fehlt. Der mittlerweile 92-jährige Alt-Präsident, der von 1974 bis 1979 an der Spitze der Bundesrepublik stand und seit drei Jahren in Bad Krozingen im Breisgau lebt, hat die Strapazen einer Reise nach Berlin nicht mehr auf sich genommen. Doch alle anderen noch lebenden Alt-Präsidenten haben sich an diesem Freitag im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes eingefunden, um der Vereidigung und Amtseinführung des neuen Staatsoberhauptes Joachim Gauck beizuwohnen:
Der von 1984 bis 1994 amtierende Richard von Weizsäcker, der in Kürze ebenfalls 92 Jahre alt wird, sein Nachfolger Roman Herzog (1994 bis 1999) und Horst Köhler (2004 bis 2010) sitzen mit ihren Ehefrauen in der ersten Reihe der Ehrentribüne; Christian Wulff, der am 17. Februar nach nicht einmal 600 Tagen im Amt zurücktrat, hat mit seiner Frau Bettina und dem neuen Präsidentenpaar Joachim Gauck und Daniela Schadt in der Mitte des Plenarsaals Platz genommen, um die ebenso würdige wie heitere Zeremonie zu verfolgen.
Symbol der Kontinuität
Die Teilnahme der Alt-Präsidenten, die zusammen 28 Jahre bundesrepublikanischer Geschichte repräsentieren und mit der Spanne ihres Lebens sogar noch den Bogen bis in die Weimarer Republik schlagen, ist mehr als nur eine freundliche Geste dem neuen Staatsoberhaupt gegenüber. Sie ist ein Symbol für die Kontinuität im höchsten Amte des Staates. Mag Joachim Gauck auch der erste Präsident sein, „der nicht aus dem Westen kommt und nicht direkt aus einem anderen hohen politischen Amt“, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Rede betont, so steht er doch in der Tradition seiner Vorgänger, die dieses Amt geprägt und auf unterschiedliche Weise ausgefüllt haben.
Aufgewachsen in der DDR
Und doch bringt er seine eigene Biografie als der erste Präsident, der in der DDR aufgewachsen ist und die alte Bundesrepublik nur als Ort seiner Sehnsucht kennt, ins Schloss Bellevue mit. „Europa war für meine Generation Verheißung“, sagt der frühere Pastor aus Rostock und erste Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. In seiner ersten großen Rede unmittelbar nach seiner Vereidigung durch Bundestagspräsident Lammert macht Joachim Gauck vor den Mitgliedern des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung deutlich, dass er nicht daran denke, von seinem „Lebensthema Freiheit“ abzurücken, dass zur Freiheit des Einzelnen aber auch die Verantwortung des Bürgers zur aktiven Mitgestaltung am Gemeinwesen gehöre. „Ihr seid nicht nur Konsumenten“, sagt er an die Adresse der Regierten, „ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins – Verantwortung zu leben.“
Dieses Land ist „unser Land“
Schon am Sonntag, bei seiner Wahl mit 80 Prozent der Stimmen, schloss er seine kurze Rede mit dem Satz, er wünsche sich, dass die Kinder und Enkel zu diesem Land „unser Land“ sagen könnten. An diesen Gedanken knüpft er in seiner Antrittsrede, an der er bis zuletzt gefeilt hat, an. Sein Rezept ist schlicht: Demokratie und Teilhabe. „Ich empfinde mein Land vor allem als das Land eines Demokratiewunders“, sagt Gauck mit Blick auf die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik nach den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur. Und an anderer Stelle: Die Demokratie sei „das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen“, da es sich um ein „lernfähiges System“ handle. „Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen und Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus.“
Bitte um Vertrauen
Gauck versteht sich als Mutmacher, als einer, der den Menschen die Angst vor der Zukunft nehmen und sie motivieren möchte. Für jeden hat er etwas dabei: Er lobt Adenauers Kurs der West-Integration und den Einsatz der 68-er, das Schweigen über die Nazi-Vergangenheit beendet zu haben. Er bekennt sich zu Europa und fordert mit den Worten Willy Brandts, man müsse „mehr Europa wagen“. Er spricht sich für soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen für alle aus, er plädiert für die einladende, offene Gesellschaft, die alle aufnimmt, „die hier leben“. Und er sagt den Extremisten aller politischen Richtungen wie den religiösen Fanatikern den Kampf an: „Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst.“
Zum Ende bittet er die Bürger vor allem um eines: Vertrauen. Dass er dieses Vertrauen genieße und „von einer Woge der Sympathie“ getragen werde, hat ihm zuvor schon Bundestagspräsident Norbert Lammert versichert – und gleichzeitig daran erinnert, dass Gauck schon bei seiner Nominierung gesagt habe, weder ein „Supermann“ noch ein „fehlerloser Mensch“ zu sein. „Das eine ist so beruhigend wie das andere.“
Auszüge aus der Rede
Geschichte: Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur, nach den Greueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als erstes den Namen Wirtschaftswunder. ... Allerdings sind für mich die Autos und die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des Demokratiewunders. Soziale Gerechtigkeit: Es soll unser Land sein, weil unser Land soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer irgendwie paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern ein Sozialstaat, der vorsorgt und ermächtigt. ... Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. ... Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Integration: In unserem Land sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen ... Unsere Verfassung spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Europa: Dieses Ja zu Europa gilt es zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. Rechtsextremismus: Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Und speziell zu unseren rechtsextremen Verächtern der Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.
ONLINE-TIPP
Die komplette Rede können Sie im Wortlaut nachlesen unter www.mainpost.de/zeitgeschehen