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KÖLN/ULM: Hirnforscher über digitale Demenz

KÖLN/ULM

Hirnforscher über digitale Demenz

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    Jugend am PC: Der tägliche Medienkonsum Jugendlicher liegt im Schnitt bei 7,5 Stunden – Internetnutzung eingeschlossen.
    Jugend am PC: Der tägliche Medienkonsum Jugendlicher liegt im Schnitt bei 7,5 Stunden – Internetnutzung eingeschlossen. Foto: Foto: dpa

    Wenn am Mittwoch (Publikum ab Donnerstag) in Köln die Computerspiele-Messe gamescom beginnt, werden sich bis Sonntag wieder Zehntausende Besucher – 275 000 waren es im vergangenen Jahr – durch die Hallen drängen. Die Tickets für den Samstag sind schon jetzt ausverkauft, schließlich können Hunderte neue Computerspiele angetestet werden. Viele Fans nehmen Wartezeiten von mehr als drei Stunden in Kauf, um einen zehn- oder 15-minütigen Einblick zu erhaschen. Moderne Zeiten – Computer, Internet und alles, was dazu gehört, sind längst Bestandteil unseres Alltags geworden. Und für manchen sogar zur Sucht. Ein Gespräch über PC-Süchtige, Laptops im Kindergarten und die Folgen für das Lernen mit dem Hirnforscher und Buchautor Manfred Spitzer, der in der Szene durchaus Kritiker findet.

    Frage: Herr Spitzer, nutzen wir das Gehirn weniger, wenn wir am Computer sitzen?

    Manfred Spitzer: Wahrscheinlich ja. Wir lagern geistige Arbeit in den Computer aus, deshalb arbeiten wir ja daran. Das führt zu einer geringeren Aktivität im Gehirn, das dadurch weniger genutzt wird und langfristig möglicherweise auch abbaut.

    Woher kommt der Begriff „Digitale Demenz“?

    Spitzer: Koreanische Ärzte haben diesen Begriff vor fünf Jahren geprägt. Er bezeichnet, worunter junge Leute leiden, die sich bei ihnen vorstellen und klagen, dass sie sich nicht mehr konzentrieren können, sich nichts mehr merken können, nicht mehr wissen, wo's langgeht, und Mühe haben, klar zu denken. Es waren junge Erwachsene, die sehr viel Zeit am Computer verbrachten.

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    Bei der Demenz verliert das Gehirn nach und nach seine Fähigkeiten. Ihr Buchtitel ist also eine überspitzte Formulierung für das, was durch übertriebene Computernutzung passieren kann.

    Spitzer: Ja. Vor allem, wenn Demenz, also der Abbau des Gehirns im Alter, einsetzt, hängt deren Ausprägung entscheidend davon ab, auf welches Gehirn die Krankheit trifft. Wenn ein Gewichtheber Muskelschwund bekommt, dann kann es sein, dass er lange krank ist, aber immer noch kräftiger ist als der Durchschnitt. Wenn man schon schwache Muskeln hat, die dann auch noch schwinden, treten die Symptome der Schwäche ganz rasch auf. Genauso ist es bei Demenzerkrankungen auch, deren Verlauf entscheidend davon abhängt, wie ausgebildet das Gehirn ist und wie viel wir gelernt haben. Demenz heißt „geistiger Abstieg“. Wer geistig fit ist, kann lange absteigen.

    Sie hatten Computersüchtige und Internetabhängige als Patienten. Wie haben Sie sie erlebt?

    Spitzer: Ich bin seit 30 Jahren Psychiater, aber es hat mich dann doch stark beeindruckt, dass es junge Erwachsene gibt, vor allem Männer, die 18 Stunden am Tag vor dem Bildschirm sitzen. Diese Menschen sind schwer gestört und brauchen Hilfe.

    Wie muss man sich das vorstellen?

    Spitzer: Sie kriegen ihr Leben nicht mehr auf die Reihe, da steht der Kehrichteimer neben dem Bildschirm, damit man nicht mehr auf die Toilette muss, weil man ja immer online sein will. Sie wissen nicht mehr, wie man eigentlich lebt, ohne als Avatar in einer virtuellen Welt unterwegs zu sein.

    Wie gehen Sie in der Klinik mit diesen Patienten um?

    Spitzer: Den Patienten geht es zunächst gar nicht gut, sie haben Entzugserscheinungen. Man muss sie ganz langsam ins Leben begleiten mit Psychotherapeuten und Sozialarbeitern, denn sie haben oft auch keine Rechnungen mehr bezahlt und häufig wurden Job und Wohnung gekündigt. Das ist sehr aufwendig. Meist ist eine lange Nachbehandlung in speziellen Einrichtungen notwendig, damit man das wieder in den Griff bekommt.

    Wie rutscht man denn in so was rein?

    Spitzer: Das geht leider ziemlich schnell: Erst spielt man nur ein bisschen zu lange, dann kann man nicht mehr offline sein, dann schläft man nicht mehr, isst weniger und vor allem ungesünder und irgendwann erlebt man seinen Körper nur noch als fette Last. Dann ist man lieber als Avatar unterwegs, und so geht die Spirale immer schneller abwärts.

    Wie lange sitzen Jugendliche vor dem PC?

    Spitzer: Der durchschnittliche Medienkonsum von Jugendlichen in Deutschland beträgt ja schon 7,5 Stunden pro Tag. Geht man von 35 Wochenstunden Schule aus, muss man samstags und sonntags abziehen und eine Schulstunde dauert ja nur 45 Minuten. Wenn man das auf den Tag umrechnet, dann ist man bei 3,75 Stunden. Das ist die Zeit, die Schüler pro Tag im Durchschnitt auf den gesamten Schulstoff verwenden. Das heißt, für den Medienkonsum wird doppelt so viel Zeit verwendet wie für den Schulstoff. Da finden zeitliche Verdrängungsprozesse statt. Die Kinder können nicht so viel Hausaufgaben machen und schon gar nicht andere außerschulische Aktivitäten.

    Was heißt das in Zahlen?

    Spitzer: Die Daten der Suchtbeauftragten der Bundesregierung zeigen, dass wir eine Viertelmillion Internet- und Computersüchtige in Deutschland haben. Das sind alles junge Leute. Hinzu kommen 1,4 Millionen Risikofälle.

    Ganz ohne Computer geht es heute nicht mehr. Was raten Sie Eltern, wie sie ihre Kinder behutsam an die Technik heranführen können?

    Spitzer: Wenn man eine gute Ausbildung hat, dann kann man auch mit einem Computer umgehen. Wenn man gut schreiben und Sätze bilden kann, dann kann man auch am PC tippen. Wenn man logische Operationen verstanden hat, kann man sofort in Google suchen. Das frühe Heranführen von Kindern bringt gar nichts, das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Das Risiko, dass die jungen Leute angefixt werden und allen möglichen Unfug treiben, ist zu groß.

    Trotzdem haben viele Kinder Handys, auf denen auch Spiele sind . . .

    Spitzer: . . . was schrecklich ist.

    Wie geht man als Eltern damit um?

    Spitzer: Man kauft ihnen kein Handy. Oder eines, mit dem man nur telefonieren kann. Das reicht. Es gibt auch keinen Grund, eine Playstation zu besitzen. Wer seinem Kind eine Playstation schenkt, muss wissen, dass er ihm damit schlechte Noten und Schulprobleme schenkt. Das ist nachgewiesen. Alles andere ist dummes Marktgeschrei.

    Sie appellieren an das Verantwortungsgefühl der Erwachsenen.

    Spitzer: Ja! Wir Erwachsenen sind es, die den Kindern Hard- und Software zur Verfügung stellen. Erwachsene können auch damit machen, was sie wollen – wir trauen ihnen diese Selbstverantwortung zu. Aber den Kindern gegenüber haben wir Verantwortung, weil sie noch nicht wissen und aufgrund ihres unreifen Gehirns gar nicht wissen können, was gut für sie ist. Ich wende mich gegen Forderungen, man müsse Laptops im Kindergarten und in der Grundschule haben, weil es wichtig für die geistige Entwicklung sei. Das ist falsch.

    Ihre Appelle stoßen oft auf taube Ohren.

    Spitzer: Ich weiß, dass ich als „Rufer in der Wüste“ gelte. Aber ich zitiere in meinem Buch die relevanten wissenschaftlichen Studien. Diese zeigen die Gefährlichkeit dieser Medien für die geistige Entwicklung von jungen Menschen.

    Warum gibt es hier in Deutschland so gut wie keine Studien, die eine Gefahr in diesem Bereich belegen, im Ausland aber sehr wohl?

    Spitzer: In Deutschland ist man insgesamt sehr unkritisch. Nach einer neuen Studie an 1000 amerikanischen Internet- und Computerspezialisten sagt etwa die Hälfte von ihnen, dass digitale Medien durchaus Probleme und Gefahren mit sich bringen. Hierzulande werden Sie kaum jemanden finden, der das sagt. Ich warne als Gehirnforscher und Psychiater vor den Folgen. In den USA ist man schon wesentlich kritischer, nicht zuletzt deshalb, weil man mit den digitalen Medien noch mehr Erfahrungen hat.

    Ähnlich erging es dem Pedoskop, dem Fuß-Röntgengerät, das in US-Schuhgeschäften im vergangenen Jahrhundert zum Einsatz kam.

    Spitzer: Ja, besonders Kinder hatten einen Riesenspaß daran, ihre eigenen Fußknochen durch das Gerät zu betrachten. Für sie war das so aufregend wie geschenkte Luftballons oder Dauerlutscher. Es wurde argumentiert, dass gut passende Schuhe länger halten, dass man also durch das Gerät Geld spare. 1950 wurde deutlich, dass die Strahlenbelastung unverantwortlich hoch war und schädlich für die Benutzer, besonders für die Kinder. Deshalb sind diese Geräte in den USA schon Anfang der 60er Jahre verschwunden. In Deutschland gab es sie zehn Jahre länger und die letzten verschwanden erst in den 70er Jahren aus den Geschäften.

    Trotzdem ist es so, dass der Computer in vielen Schulen zum Unterricht gehört. Welche Folgen hat das für das Lernen?

    Spitzer: Wenn ich einen Inhalt mit „Copy and Paste“ am Computer erstelle, dann hat dieser mein Gehirn noch gar nicht erreicht. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass die Verarbeitungstiefe entscheidend für das Lernen ist. Je mehr ich über eine Sache nachdenke, desto mehr bleibt sie in meinem Kopf hängen, da sich das Gehirn durch seine Benutzung ändert. Wenn aber der Computer mir dabei hilft, mein Gehirn weniger zu benutzen, dann trägt er nicht zum Lernen bei. Er behindert das Lernen vielmehr.

    „Für den Medienkonsum wird doppelt so viel Zeit verwendet wie für den Schulstoff.“

    Manfred Spitzer

    Sie haben eine Grundschule besucht, in der Kinder mit einem Smartboard unterrichtet wurden. Das ist eine elektronische Tafel, ein großer Bildschirm, auf dem man mit Werkzeugen oder der Hand Objekte anfassen kann. Ist das sinnvoll?

    Spitzer: Wir wurden von einer Schule in Magdeburg eingeladen. Es gab einen Systemadministrator, der half, wenn ein Computer abgestürzt war, es gab Professoren, die die Didaktik auf die Laptops abgestimmt haben. Es war beeindruckend, wie viel Mühe sich alle gegeben haben, auch von Lehrerseite. In Großbritannien gibt es Smartboards schon in 50 Prozent aller Klassen. Zusammen mit einem Kollegen habe ich mir angesehen, wie die Kinder gelernt haben, Vor- und Nachsilben und Wortstämme zu bilden. Zum Beispiel „freund-“ und „-lich“ mussten sie zu „freundlich“ zusammenziehen. Das Problem ist, wenn man mit der Hand über den Bildschirm fährt, muss man im Kopf ganz wenig machen. Wenn man es abschreibt, passiert im Gehirn sehr viel mehr. Das Smartboard ist dem Lernen zunächst einmal abträglich.

    Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, einen Verriss ihres ersten medienkritischen Buches „Vorsicht, Bildschirm“ publiziert. Warum ist die Politik so technikgläubig?

    Spitzer: Es gibt eine unheilige Allianz zwischen den Medien und der Politik. Ein Politiker, der sich gegen die Medien äußert, ist morgen weg vom Fenster. Umgekehrt werden die Intendanten von den Politikern ernannt. Die Medienpädagogen leben von den Medien. Die Computerindustrie kauft ganze Institute. Da muss man sich doch über nichts mehr wundern.

    Manfred Spitzer

    Der Wissenschaftler, Jahrgang 1958, gilt als einer der bedeutendsten deutschen Gehirnforscher. Spitzer studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und habilitierte im Fach Psychiatrie. Zweimal war er Gastprofessor an der Harvard University in den USA. Seit 1997 hat er den Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne. Er leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm. In seinem Buch „Vorsicht Bildschirm“ stellte er die These auf, dass Computer dick, dumm, krank und gewalttätig machen. Und das ist sein neuer Buchtitel: „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, Droemer Verlag, München, 368 Seiten, 19,99 Euro.

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