Für heute hat Stefan Schneider genug. Vor allem davon, die immer gleichen Fragen zu beantworten. Wie es dem verunglückten Höhlenforscher denn geht? Ob schon Ärzte bei ihm angekommen sind? Wann die Rettungsaktion beginnen kann? Es ist später Nachmittag. Die Sonne brennt auch hier in Oberbayern seit ein paar Tagen auf die Einwohner und Touristen herab. Der stellvertretende Chef der Bergwacht Bayern steht verschwitzt und geschafft neben der Einsatzzentrale der Freiwilligen Feuerwehr Berchtesgaden. Einer der wenigen schattigen Plätze auf dem überfüllten Gelände.
Seit am Pfingstsonntag der 52-jährige Höhlenforscher Johann Westhauser bei einer Expedition in der Riesending-Schachthöhle auf dem Untersberg in den Berchtesgadener Alpen verunglückt ist, herrscht hier ein Medienrummel: nahezu alle namhaften Zeitungen, Radio- und Fernsehsender sind anwesend. „Die wechseln immer wieder ihre Teams“, erzählt Schneider und blickt müde auf die Übertragungswagen. Selbst ein italienischer Fernsehsender hat sich auf den Weg nach Berchtesgaden gemacht.
Großes Presseaufgebot
In einem extra für die Berichterstatter aufgestellten Zelt an der Hauptstraße reiht sich ein Laptop an den anderen. Eine junge Passantin, die gerade am Feuerwehrhaus vorbeiläuft, ist verwirrt. „Was ist hier denn los?“, fragt sie in die Runde. Und bekommt prompt Auskunft. Von dem Unglück so nah vor ihrer eigenen Haustüre hatte sie noch gar nichts mitbekommen. „Und wie viele sind verletzt?“ „Nur einer“, lautet die Antwort.
Nur zu gerne wüssten alle mehr über das Drama in der Höhle. Doch die Informationen kommen häppchenweise. Denn für die Rettungsaktion in der mit knapp 1000 Meter tiefsten Höhle Deutschlands braucht jeder Schritt seine Zeit. So gibt es auch in den darauffolgenden Stunden zunächst keine neuen Erkenntnisse: Noch immer wird auf eine Rettung des verletzten Höhlenforschers innerhalb einer Woche gehofft. Ob das glücken kann, ist derzeit noch nicht absehbar.
Denn dafür muss endlich ein Arzt bis zum Verunglückten gelangen und ihn für transportfähig erklären. So machte sich bereits am Dienstag ein Schweizer Rettungsteam inklusive Arzt auf den Weg in 1000 Meter Tiefe. Wäre alles gut gegangen, hätte der Trupp bereits in der Nacht zum Mittwoch bei dem Verletzten eintreffen sollen. Ging es aber nicht.
Hoffen auf positive Neuigkeiten
Am Mittwochmorgen – wieder heiße Temperaturen um die 30 Grad, wieder hoffen die Medienvertreter auf die positiven Neuigkeiten. Ist der Schweizer Rettungstrupp vom Vorabend bereits beim Verletzten? Wie steht es um dessen Gesundheitszustand? Kann in ein paar Stunden die Bergung des Verletzten beginnen? Doch dann kommt Stefan Schneider mit schlechten Nachrichten. „Der Arzt kommt jetzt nicht mehr weiter mit seinem Team“, erklärt er. Zu anstrengend sei die erste Hälfte des Abstiegs gewesen.
Der Rettungstrupp erhole sich derzeit am dritten der fünf Rastpunkte. Doch gerade sei ein italienisches Team mit einem weiteren Arzt auf dem Weg. Sie wollen sich mit der Schweizer Mannschaft am Rastpunkt treffen. Und dann gebe es da noch ein weiteres Problem: das Wetter. Wärmegewitter haben sich angekündigt. Für die Rettungsaktion würde dies bedeuten, dass Teilstrecken nicht mehr passierbar wären. „Das war es fürs Erste“, erklärt Schneider. Und die Journalisten warten weiter in der brütenden Hitze. Bis 14 Uhr. Dann ist eine Pressekonferenz angesetzt.
Einige Journalisten werden unruhig. Sie wollen nicht nur den ganzen Tag herumsitzen und warten. Einige kommen auf die Idee, sich bis zur Höhle selbst zu wagen. „Ich glaube, ich habe einem Kollegen das Leben gerettet“, erzählt Knut Krohn. Der wollte ohne passende Ausrüstung auf den Untersberg. Krohn, Redakteur der „Stuttgarter Zeitung“ und erfahrener Kletterer, weiß, wie schwierig es ist, bis nach oben zu kommen. Zunächst läuft man auf einem Wanderweg und durch einen Wald. Doch wenn man aus dem Wald herauskommt, geht es gut 400 Meter die „glatte Wand“ hoch. Ohne Seil und Sicherung sei man aufgeschmissen. Erst einmal oben angekommen, erwartet einen ein Anblick, den Krohn selbst als „grauslig“ bezeichnet. „Es ist gleißend hell und heiß.“
Und die Felsspalte, durch die das dreiköpfige Höhlenforscher-Team an Pfingsten seine Expedition startete, sei auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen. „Man würde daran vorbeilaufen, denn es gibt einige solcher Löcher da oben“, sagt der Stuttgarter mit einem Lächeln. Dass er den richtigen Spalt überhaupt gefunden hat, verdankt er einem Rettungshubschrauber, der in dem Moment über einer Stelle schwebte.
Eine Rettung noch diese Woche?
Fragen über Fragen, Probleme über Probleme. Ob es an diesem Nachmittag noch Antworten gibt? Auf eine Rettung des verletzten Höhlenforschers noch in dieser Woche setzt kaum noch einer.
Normalerweise würde Johann Westhauser seit Tagen auf der Intensivstation liegen. Stattdessen harrt der Höhlenforscher bei Temperaturen um vier Grad im Dunkeln in 1000 Metern Tiefe aus. Und wartet Tage nach dem Unfall immer noch auf einen Arzt. Steinschlag hatte am Sonntagmorgen den erfahrenen und bestens trainierten Mitentdecker der Riesending-Schachthöhle und seine beiden Kollegen überrascht.
Der 52-Jährige hing am Seil, als ihn ein Brocken am Kopf traf. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Westhausers Kollegen schafften es, den Schwerverletzten an einen trockenen und windgeschützten Ort zu legen. Viel ist nicht bekannt über seinen Zustand, obwohl Helfer inzwischen eine Funkverbindung über Langwellen in die Tiefe geschaffen haben.
Einschätzungen eines Neurochirurgen
Über das Höhlen-Kommunikationssystem Cavelink können sie Textnachrichten zwischen Höhleneingang und Unfallort austauschen. Westhauser sei stabil, fast immer ansprechbar, könne zeitweise mit Hilfe stehen, sagt der Frankfurter Neurochirurg und erfahrene Höhlenarzt Michael Petermeyer, der das Einsatzteam verstärkt.
Wie es dem Verunglückten psychisch geht nach Tagen in Dunkelheit und bei Kälte, schwer verletzt und ohne medizinische Hilfe? Zumindest weiß Westhauser, was die Aktion bedeutet. Er ist Höhlenretter, hat an vielen Übungen teilgenommen – und geprobt, was nun für ihn selbst gefährlicher Ernstfall ist. Westhauser habe wahrscheinlich das Schlimmste nach der Verletzung überstanden, sagt Petermeyer. Aber: „Wir haben recht wenig Vorerfahrung mit einem unbehandelten Schädel-Hirn-Trauma.“
Es sei Neuland, eine solche Verletzung ohne intensivmedizinische Methoden zu behandeln. Ein Herunterkühlen des Körpers etwa sei in der Höhle unmöglich. „Das wäre eine absolute vitale Gefährdung. Wir haben keine Ressourcen da unten, einen Patienten wieder zu erwärmen.“ Auskühlen gehört bei Höhlenunfällen sogar zu den größten Gefahren. Der Zustand des Baden-Württembergers müsse bei einem möglichen Rücktransport von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute neu bewertet werden. Die Einschätzung der Transportfähigkeit sei „immer eine Gratwanderung“.
„Das Verbleiben in der Höhle unter diesen Bedingungen ist per se eine Gefährdung. Und dagegen ist abzuwägen die Gefährdung, die der Patient durch den Transport eingeht.“ Und endlich, am Mittwochabend, die erlösende Nachricht: Ein Arzt ist bei dem verletzten Höhlenforscher eingetroffen.
Schädel-Hirn-Trauma
Diagnose: Als Schädel-Hirn-Trauma bezeichnen Ärzte Schädelverletzungen, bei denen auch das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde. Häufig gehen damit eine Prellung oder eine Fraktur einher. Mediziner unterscheiden drei Schweregrade: leicht, mittelschwer und schwer. Folgen: Koma, Bewusstseinstrübung, Krampfanfälle oder Erbrechen können Folgen sein. Wie schwer das Schädel-Hirn-Trauma ist, das der Höhlenforscher Johann Westhauser erlitt, darüber gibt es bisher keine Informationen. Schon geringe Verletzungen können eine Hirnblutung oder -schwellung verursachen und Symptome teils erst nach Tagen auftreten. Kurz nach einem Schädel-Hirn-Trauma können auch geübte Mediziner die Folgen nur mit großer Ungenauigkeit abschätzen. Risiko: Bei bewusstlosen Patienten müssen Blutungen im Schädel unterstellt werden, was die Sauerstoffversorgung des empfindlichen Hirns gefährdet – in solchen Fällen droht das Risiko bleibender Schäden. Text: dpa