Die Unterkunft ist ungewöhnlich. Die Miete ist ungewöhnlich. Und die Partnerschaft ist es auch. Die Hardwick-Wollfledermaus auf Borneo verbringt ihren Tagschlaf oft und gerne in einer fleischfressenden Pflanze. Um genau zu sein: in den großen Kannen der Nepenthes rafflesiana elongata. Klingt unbedeutend, ist aber für Biologen eine bemerkenswerte Sache. Denn dass ein Säugetier in einer Karnivore geradezu wohnt, ist eine bislang einmalige Beobachtung.
Gemacht hat sie der Würzburger Tropenbiologe Dr. Ulmar Grafe – durch Zufall. Seit einigen Jahren lebt und forscht Grafe im Sultanat Brunei an der Nordküste Borneos. Sein Spezialgebiet: der Gesang von Fröschen. Der Bio-Akustiker erforscht die Kommunikation der Amphibien in den dichten Sumpfwäldern an der Küste. Auf seinen Expeditionen fiel ihm diese eine Nepenthes-Art auf, die weit weniger Insekten fängt als andere fleischfressenden Kannenpflanzen auf Borneo. Und ihm fiel auf, wie immer wieder eine zierliche, kaum vier Gramm schwere Fledermaus mitten im Trichter der Pflanze saß. Kurioser Zufall? Bis zu 25 Zentimeter können die Kannen lang werden, vier bis fünf Zentimeter beträgt ihr Durchmesser. Gerade genug Platz für Kerivoula hardwickii, die kleine Wollfledermaus mit ihren drei bis sechs Zentimetern Länge. In der Literatur aber war darüber nichts zu finden.
Dafür fanden die Würzburger Biologie-Studenten Caroline und Michael Schöner am Biozentrum der Universität vor zwei Jahren einen Aushang am schwarzen Brett: Fledermaus-Experten für ein Tropenpraktikum gesucht. Bitte bei Ulmar Grafe, Brunei, melden.
„Der Begriff Miete trifft es ganz schön.“
Michael Schöner über die Fledermaus, die in die Kannen kackt
Genau das Richtige für die beiden Biologen. Caroline Schöner hatte schon in ihrer Diplomarbeit Fledermäuse erforscht: Sie ging dem Kraulverhalten der weiblichen Bechstein-Fledermäuse im Guttenberger Wald nach, untersuchte, wie die Kolonie ihre Rastplätze wählt. Zusammen mit ihrem Mann Michael Schöner, der bereits mit Langohrfledermäusen gearbeitet hatte, erforschte sie, welche Rolle die Rufe spielen. Und: Beide wollten gerne in die Tropen.
Zwei Monate schweißtreibende Arbeit in den nährstoffarmen Sumpfwäldern auf Borneo also um das außergewöhnliche Dschungelcamp der Hardwick-Wollfledermaus zu untersuchen. Was ist das für eine Wohngemeinschaft? Sucht sich der kleine Säuger wirklich nur in dieser einen Pflanzenart seine Bettstatt? Und was hat die Pflanze davon? Jeden Schritt im grünen Dickicht mussten die Biologen mit der Machete freischlagen. Sie markierten 400 Kannen, die sie jeden Tag abliefen. Fingen Fledermäuse und klebten ihnen Telemetrie-Sender an, um die Wege von Schlafplatz zu Schlafplatz verfolgen zu können. „Manche Tiere wechseln die Kanne jeden Tag, manche Tiere schlafen eine Woche in der gleichen Kanne“, sagt Caroline Schöner. Meist saß nur eine Fledermaus im Trichter. Hier und da ein Muttertier mit Kind. Das Ergebnis ihrer Beobachtungen beschreiben die Schöners mit Ulmar Grafe jetzt in den „Biology Letters“ der britischen Royal Society: Vom Zusammenleben profitieren Fledermaus wie Pflanze.
Bei Kannenpflanzen ist ein Teil der Blätter zu schlauchförmigen Fallen umgestaltet. An deren glatten Innenwänden verlieren Insekten und andere kleine Tiere leicht den Halt. Sie rutschen in die Tiefe – direkt hinein in einen Verdauungssaft, der sie auflöst und die Körper zersetzt. Die fleischfressenden Pflanzen sind auf den wertvollen Stickstoff aus, den sie zum Leben dringend brauchen und mit dem sie unter anderem das Blattgrün bilden.
Nepenthes rafflesiana elongata aber fängt wenig Ameisen und Käfer. „Ihre Kannen sind ziemlich schlechte Fallen“, sagt Ulmar Grafe. Sie bilden im Vergleich zu anderen Arten wenig Verdauungsstoffe und geben kaum Duftstoffe ab, die Insekten anlocken und verführen. Den Nachteil macht die Kannenpflanze durch eine anderen Ernährungsstrategie wieder wett: Sie ernährt sich vom Kot ihrer Untermieter. „Der Begriff Miete trifft es ganz schön“, sagt Michael Schöner. Denn die Pflanze bietet der Fledermaus exklusiv einen sicheren Schlafplatz – und bekommt als Gegenleistung die nährstoffreichen Exkremente. Gut ein Drittel des Stickstoffs, der in den Blättern der Pflanze steckt, stammt aus dem Fledermauskot, schätzen die Wissenschaftler. „Ein sehr ungewöhnliches Beispiel für eine Kooperation zwischen Tier und Pflanze“, sagt Ulmar Grafe.
Dass sich ein Säugetier zum gegenseitigen Nutzen mit einer fleischfressenden Pflanze zusammentut, sei bisher nur in einem einzigen anderen Fall belegt: Die Kannenpflanze Nepenthes lowii lockt Spitzhörnchen an, die von ihrem Nektar trinken. Beim Schlürfen des Zuckerwassers vom Kannendeckel sitzen die Nager mit ihren Hinterläufen genau auf den Rändern der Kanne – und scheißen eben bisweilen hinein.
Und die Lebensgemeinschaft mit der Fledermaus? Wie ist sie wohl entstanden? Wer passte sich an wen an? „Vermutlich haben zuerst die Fledermäuse die Kannen aufgesucht – als Notlösung, denn Schlafplätze sind begrenzt im Regenwald“, sagt Grafe. Die Bäume im Sumpfwald haben dünne Stämme, es gibt kaum Baumhöhlen, die Konkurrenz um kühle und sichere Quartiere ist groß. Warum also tagsüber nicht den Kopf in den Trichter stecken? Dort ist's bequem aus einem weiteren Grund: Anders als in Baum- oder Felshöhlen belästigen dort weit weniger blutsaugende Parasiten die schlafende Fledermaus.
Durch die Ausscheidungen der kleinen Säuger waren die Pflanzen möglicherweise nicht mehr so stark auf gehaltvolle Insektenkadaver angewiesen. Es wäre eine Erklärung für die geringe Produktion von Duftstoffen und Verdauungssaft. Doch woran erkennen die Fledermäuse im dichten Gestrüpp des Tropensumpfes, dass die Kanne ein guter Schlafplatz ist? Der Deckel des Trichters könnte eine entscheidende Rolle spielen, sagt Caroline Schöner. Womöglich reflektiert er den Schall genau so, dass dies den Fledermäusen als akustisches Erkennungssignal dient.
So dicht der Tropenwald bewuchert, so eng verschlungen die Pflanzen, so reich das Leben und so kompliziert aufeinander abgestimmt das Ökosystem – so zahlreich sind für die Wissenschaftler die Fragen. Sind vielleicht andere Nepenthes-Arten auch auf den Kot kleiner Säugetiere spezialisiert? Gibt es andere Übernachtungsgäste in fleischfressenden Pflanzen? Caroline und Michael Schöner werden im Urwald von Borneo weiter nach Antworten suchen. Im Sommer schlagen sie dort wieder ihr Dschungelcamp auf und beginnen ihre Doktorarbeiten.