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Berlin: Jeder blamiert sich, so gut er kann

Berlin

Jeder blamiert sich, so gut er kann

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    Youtuber Rezo wirft den Christdemokraten in einem viel beachteten Video unter anderem vor, beim Klimawandel untätig zu sein und Politik für Reiche zu machen. Foto: Privat/dpa
    Youtuber Rezo wirft den Christdemokraten in einem viel beachteten Video unter anderem vor, beim Klimawandel untätig zu sein und Politik für Reiche zu machen. Foto: Privat/dpa Foto: -

    Pro Jahr gibt es um die 20 Sitzungswochen im Deutschen Bundestag. Aus allen Teilen der Republik strömen die Abgeordneten Richtung Hauptstadt und die Atmosphäre im Parlament ist entsprechend aufgeladen. In den sitzungsfreien Wochen beruhigt sich die Lage normalerweise wieder. Diese Woche hat der Bundestag zwar Pause, aber im Regierungsviertel herrscht trotzdem eine hohe Spannung. Das liegt zum einen an der Europawahl, vor allem aber auch an den Reibereien zwischen Union und SPD. Der Streit über die Grundrente hat die schwarz-rote Koalition an den Siedepunkt gebracht, der Druck im Kessel hat nochmal zugenommen.

    Die Grundrente ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr die Nerven bei der SPD blank liegen. Die Sozialdemokraten müssen nicht nur bei der Europawahl mit massiven Stimmverlusten rechnen. Am 26. Mai sind auch Landtagswahlen in Bremen und die Partei fürchtet um den Verlust eines Stammlandes, in dem sie seit 1946 immer die Stimmmehrheit hatte. Vor dieser Drohkulisse kam die SPD auf die Idee, noch schnell einen Finanzierungsplan für die Grundrente vorzulegen. Doch nicht nur der Plan an sich ist ein Desaster, auch die Vorstellung war schlecht gemacht.

    Affront gegen Nahles

    Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil hatten es nämlich ziemlich eilig. Sie stürmten am Dienstagabend in die ARD – und vergaßen vor lauter Aufregung ihre Vorsitzende. Andrea Nahles wurde erst viel später zum Thema Grundrente in der Öffentlichkeit vernommen, dieses Vorgehen werteten viele nicht nur bei der Union, sondern auch in den eigenen Reihen, als Affront gegenüber der Partei- und Fraktionsvorsitzenden. Vor lauter Eile verloren Heil und Scholz auch ein paar Milliarden Euro aus den Augen, jedenfalls ist die Grundrente keineswegs durchfinanziert, wie Heil glauben machen will. Als Beleg für die Hektik gilt auch, dass sich der Begriff „Mövenpicksteuer“ tatsächlich im Gesetzentwurf wiederfindet. Diesen eher abfälligen Begriff prägte die Presse, als es an die Kürzung der Umsatzsteuersätze für Hoteliers ging. In einem Gesetz hat dieser Terminus nichts zu suchen.

    Die SPD kann sich im Moment damit trösten, dass die CDU auch ein großes Problem hat. Das ist jung, männlich, hat blaue Haare und den Künstlernamen Rezo. Der verdient im Internet gerade viel Geld mit dem Youtube-Video „Die Zerstörung der CDU“. Rezo zerpflückt darin die Politik der Christdemokraten, befeuert durch eine breite Medienberichterstattung haben bereits mehrere Millionen Menschen das Video angeklickt. Es dürfte bald die Einschaltquoten guter „Tatort“-Folgen erreichen.

    Von Video überrumpelt

    Die CDU, die schon glücklich ist, wenn ihre eigenen Videos von 1000 Menschen gesehen werden, wurde von dem Beitrag völlig überrumpelt. Erst reagierte sie gar nicht, dann schickte sie ihren Generalsekretär Paul Ziemiak vor. Der bekam, so heißt es in Unionskreisen, am Mittwoch bei der zu Kabinettssitzungen üblichen Frühstücksrunde seinen Marschbefehl – und war drüber ziemlich böse. Entsprechend wortkarg und unmotiviert fiel sein Statement aus.

    Danach wollte die CDU ein Gegenvideo mit ihrem Jungstar Philipp Amthor veröffentlich. Amthor ist Bundestagsabgeordneter, er kann seine politischen Gegner schwindelig reden und ist, wie Rezo, ein origineller Typ. Bloß dass Amthor statt flippiger blauer Haare einen ziemlich spießigen Seitenscheitel trägt und statt im Kapuzenpullover meist sehr korrekt in Anzug und Hemd sowie mit Manschettenknöpfen und Krawatte daherkommt.

    Vielleicht schwante den Verantwortlichen im Konrad-Adenauer-Haus – dessen Pressestelle seit einiger Zeit durch den Medien- und Kommunikationsprofi Bülend Ürük verstärkt wird – dass der Schuss nach hinten losgegangen und Amthor im Vergleich zu Rezo den Kürzeren gezogen hätte. Jedenfalls wurde der Film nicht veröffentlicht. Stattdessen lud CDU-General Ziemiak den jungen Youtuber Rezo zum Meinungsaustausch ein. Ob dieser altbackene Reflex das Ruder herumreißen kann, darf bezweifelt werden.

    Chefinnen halten sich bedeckt

    Diese Vorgänge mögen vielleicht amüsant sein. Andererseits zeigen sie auf dramatische Weise, wie schlecht es gerade um die Regierungsparteien bestellt ist. Selbst einfachste handwerkliche Dinge laufen komplett aus dem Ruder. Die Chefinnen greifen nicht ein. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hält sich ebenso bedeckt wie Andrea Nahles bei der SPD.

    „Das wird uns und die SPD bei der Europawahl einige Stimmen kosten“, stöhnte ein hochrangiger Unionspolitiker am Donnerstag. Die Sorge gilt dabei nicht so sehr den Stammwählern. Die sind ihrer Partei treu und lassen sich durch Youtube-Videos und falsche Rechnungen nicht aus der Ruhe bringen. Die aktuellen Hitzewellen bei Union und SPD werden aber Auswirkungen auf die neuen Wähler und die noch Unentschlossenen haben.

    Jungwähler fassungslos

    Dabei sprechen beide Parteien unfreiwillig ein breites Spektrum an. Neuwähler sind junge Wähler und diese verfolgen mit einiger Fassungslosigkeit, wie unfähig die CDU auf die Rezo-Herausforderung reagiert. Unentschlossene sind oft schon ein paar Jahre älter, sie werden mit ebensolcher Fassungslosigkeit beobachten, wie leichtfertig die SPD mit dem wichtigen Thema der Altersvorsorge umgeht. Am Ende stehen Abwanderungen zu anderen Parteien oder der Entschluss, am Sonntag Zuhause zu bleiben.

    Eine Sitzungswoche wird es auch nach dem Wahlsonntag nicht geben. Die Spannung jedoch steigt weiter an, soviel ist klar. Es wird wohl die „bislang härteste Woche“ werden, wie es ein CDU-Politiker auf den Punkt brachte.

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