„Morgen sind wir 27.“ Ursula von der Leyen lässt den kurzen wie bedeutungsschweren Satz noch einen Moment im Raum stehen, ehe die Kommissionspräsidentin weiterredet. „Nirgendwo auf der Welt findet sich eine vergleichbare Union mit 27 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen, 445 Millionen Bürgern und einem Binnenmarkt.“ Es ist Freitag, der Tag, der mit dem Brexit endet. Die drei Präsidenten der EU-Kommission (Ursula von der Leyen), des Rates (Charles Michel) und des Parlamentes (David Sassoli) treten in Brüssel auf. Das Bedürfnis ist groß, den ausscheidenden Briten noch ein letztes Mal „unsere Zuneigung“ zu demonstrieren, ehe die nächste Schlacht beginnt: das Ringen um eine gemeinsame Zukunft.
Drohende Worte
„Wir wollen die bestmögliche Partnerschaft“, sagt die deutsche Kommissionschefin. „Aber die wird nie so gut sein wie eine Mitgliedschaft.“ Es mischen sich erste drohende Worte in die Abschiedsrede: „Nur wer den Binnenmarkt anerkennt, kann auch die Vorteile daraus ziehen.“ Sie weiß längst, dass der britische Premierminister Boris Johnson die europäischen Standards abbauen und unterlaufen will. Die Brüsseler Bürokratie hat mit Blick auf die Ende Februar oder Anfang März anlaufenden Gespräche über die beiderseitigen Beziehungen den Begriff „Level Playing Field“ erfunden. Er soll sagen, dass britische Unternehmen keine unfairen Vorteile gegenüber den EU-Konkurrenten bekommen dürfen. Denn mit weniger hohen Qualitätsanforderungen würden sie billiger produzieren und die EU-Wettbewerber in Schwierigkeiten bringen. Es ist absehbar, dass genau das der Knackpunkt werden könnte: Je weniger London auf die Union zuzugehen bereit ist, umso härter fällt der Bruch am Jahresende aus.
Zugleich wächst in Brüssel die Sorge, ob die Gemeinschaft die Zukunft ohne Großbritannien schadlos übersteht. Der belgische Finanzminister Alexander De Croo sprach gestern schon von Befürchtungen, dass die mächtige Achse Paris – Berlin noch mächtiger werden könnte: „Und ehrlich gesagt ist das für Belgien keine gute Sache“. In den Stellungnahmen aus den Regierungshauptstädten ertönten deutliche Rufe nach mehr Geschlossenheit. Auch die drei Präsidenten stimmten ein, obwohl sie sich selbst noch am Donnerstag bei einer Klausur schwer taten, eben diese Einigkeit herzustellen. Denn ausgerechnet bei einem der Prestige-Projekte, der Konferenz über die Zukunft der EU, die am 9. Mai unter Beteiligung der Wähler beginnen und Reformen beraten soll, gibt es gravierende Meinungsverschiedenheiten.
Weniger Kompetenzen in Brüssel
Die Abgeordneten haben einen weitgehenden Vorschlag zum Umbau der Union vorgelegt, in dem Vertragsänderungen ausdrücklich als möglich bezeichnet werden. Ursula von der Leyen will davon nichts (mehr) wissen. Und die Staats- und Regierungschefs, deren Vorsitzender Michel ist, möchten eine breite Diskussion vermeiden, bei der am Ende zahllose Wünsche aus den Mitgliedstaaten auf den Tisch kommen könnten, darunter auch der nach weniger Kompetenzen für die Brüsseler Zentrale. Die Kommission will dagegenhalten und in den kommenden Wochen bis Anfang März eine regelrechte Welle an neuen Strategien zur Klimaneutralität, für eine künftige Industriepolitik, für eine Digitalunion und einen Energiebinnenmarkt setzen.
Das klingt alles gut, wird auch von hohen Erwartungen, aber eben auch Befürchtungen begleitet. Dagegen will die EU-Spitze angehen. „Wir haben eine gemeinsame Vision, wo es hingehen soll“, schrieben die drei Präsidenten in einem Artikel, der in großen europäischen Zeitungen am Freitag erschien. Und dann beschworen sie regelrecht die Aufbruchsstimmung, die Europa jetzt brauche: „Diese Arbeit geht mit Anbruch des morgigen Tages (Samstag, d. Red.) weiter.“