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SHEFFIELD: Katastrophe in England: Am 15. April 1989 kämpften in Sheffield Hunderte Fußballfans ums Überleben

SHEFFIELD

Katastrophe in England: Am 15. April 1989 kämpften in Sheffield Hunderte Fußballfans ums Überleben

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    15. April 1989: Der Tag der Katastrophe im Hillsborough-Stadion in Sheffield hat den Fußball in England für immer verändert.
    15. April 1989: Der Tag der Katastrophe im Hillsborough-Stadion in Sheffield hat den Fußball in England für immer verändert. Foto: Foto: AFP

    London 96. 25 Jahre. Nur diese beiden Zahlen scheinen in der riesigen Choreografie auf, die Fans des FC Liverpool auf der Tribüne zeigen. 96 Tote. Vor 25 Jahren. Die Fußballer unten auf dem Feld tragen Trauerflor. Dann wird es für eine Minute ganz still. Totenstill. Die Menschen haben Tränen in den Augen. Viele von ihnen, die in ihren roten Trikots zum Spiel am vergangenen Sonntag gekommen sind, haben vor 25 Jahren ihre Liebsten verloren. Die Stadionkatastrophe von Hillsborough wurde für das ganze Land zum Trauma. Der 15. April 1989 ging in die Sportgeschichte ein. Er sollte den Fußball in England für immer verändern.

    1989: Trevor Hicks, seine Frau Jenny und die beiden Töchter Sarah und Victoria machen sich an jenem Samstagmorgen auf den Weg nach Sheffield, um sich das Pokal-Halbfinale des FC Liverpool gegen Nottingham Forest anzuschauen. Sie freuen sich auf den Familienausflug. Die Sonne scheint, am Straßenrand vor dem Hillsborough-Stadion verkauft ein Händler Sonnenbrillen für ein Pfund pro Stück. Die vier reihen sich ein in den Strom tausender Menschen, die sich gen Stadioneingang bewegen. Darunter befinden sich auch der 18 Jahre alte James Aspinall und sein 17-jähriger Freund Graham Wright. Wenn die beiden Teenager die zahlreichen Leute beobachten, die noch auf der Suche nach Tickets sind, können sie ihre Aufregung kaum zurückhalten. Seit Wochen ist das Spiel ausverkauft. Und sie sind dabei!

    Gate C – die Todesfalle

    Der Andrang nimmt zu, eine Stunde vor dem Beginn schieben sich fast 10 000 Liverpool-Anhänger in Richtung der Eingänge. Überforderte Polizeibeamte versuchen auf ihren Pferden, die Lage in den Griff zu bekommen. Sie werden es nicht schaffen. Der Anpfiff rückt näher und damit steigt auch die Sorge bei den Besuchern, die ersten Spielminuten zu verpassen. Dann hat der verantwortliche Polizist David Duckenfield eine Idee. Um Ordnung in das Chaos zu bringen, entscheidet er sich, ein Tor, das eigentlich als Ausgang diente, zu öffnen. Gate C, so der Name, hat jedoch keine Drehkreuze, die wie tropfende Wasserhähne die Menschen nacheinander einlassen. Gate C ähnelt einem gebrochenen Damm. Hunderte Menschen stürmen auf einmal ins Stadioninnere. Während auf dem Platz die Spieler besungen, beklatscht und bejubelt den Rasen betreten, drängen tausende Fans durch einen engen Tunnel auf die Ränge der bereits überfüllten Fankurve.

    Darunter sind auch die 19-jährige Sarah Hicks und ihre vier Jahre jüngere Schwester Victoria. Sarah steht kurz davor, ihr Studium in Liverpool aufzunehmen. Victoria träumt davon, Sportreporterin zu werden und selbst einmal von Fußballspielen zu berichten.

    Es ist 15 Uhr. Anpfiff. Auf geht’s, Jungs! Die Fans im Stadion fiebern mit ihren Spielern mit, konzentrieren sich auf das Geschehen auf dem Platz. Der Schuss eines Liverpoolers landet an der Latte. „Ooohhh“, hallt es durch die Arena. Da kämpfen bereits hunderte Menschen ums Überleben.

    Weil weiterhin Fans auf die Tribüne drängen, werden die Zuschauer im unteren Teil der Tribüne immer stärker gegen die eisernen Zäune und Gitter gepresst. Panik. Atmen. Eng. Luft. Hilfe. Die ersten Fußballanhänger werden erdrückt. „Die Leute wurden blau. Ich fühlte, wie Menschen unter der Menge an meinen Knöcheln zogen“, erinnert sich einige Jahre später ein Fan, der das Unglück überlebte. In jenen Momenten geht das Sterben in den Anfeuerungsschreien und Schlachtgesängen unter.

    Nach sechs Minuten ist Schluss

    Obwohl die Polizei die Szenen beobachtet, braucht sie quälend lange Minuten, bis sie sich dazu durchringt, die Tore zum Spielfeld hin zu öffnen. Erst als die ersten Fans voller Todesangst über den Zaun klettern und plötzlich auf dem Rasen stehen, wird allen klar, dass gerade etwas Schreckliches passiert. Verzweifelte Menschen im oberen Bereich des Blocks strecken die Hände in die Höhe und lassen sich von anderen auf den nächsten Rang hochziehen, um dem Chaos zu entkommen. Sechs Minuten nach Spielbeginn ist Schluss, der Schiedsrichter pfeift das Spiel ab. Die Teams gehen zurück in ihre Kabinen und nie wieder werden die Fußballspiele auf der Insel ihre unbeschwerte Leichtigkeit zurückbekommen. Am Ende sterben 94 Menschen noch im Stadion. 766 Fans werden zum Teil schwer verletzt. Zwei weitere Männer erliegen später ihren Verletzungen.

    Unter den Toten sind auch die beiden Teenager Sarah und Victoria Hicks. Das jüngste Opfer ist der zehnjährige Jon-Paul Gilhooley. Sein Cousin, der berühmte Kicker Steven Gerrard, spielt seit seiner Kindheit für den FC Liverpool und widmete seine Karriere dem umgekommenen Verwandten. Nach der Katastrophe pilgern Tausende zum Stadion an der Anfield Road in Liverpool, um ihre Trauer auszudrücken. Schals hängen am Zaun, die Fußballstätte ertrinkt in einem Blumenmeer, das Profiteam leidet während der Trauerfeiern mit den Angehörigen der Opfer. 25 Jahre nach der Tragödie erinnern dieselben Szenen an den 15. April 1989, der nicht nur den FC Liverpool verändern sollte, der im Anschluss sein Vereinswappen anpasst. Zwei Fackeln dienen als Andenken an das Unglück, hinzu kommt der Schriftzug mit dem berühmten Titel der Klub-Hymne „You’ll never walk alone“.

    Der Fußball in England zieht schnell seine Lehren. Stehplätze werden abgeschafft, Zäune verboten. Sehr viel länger dauert es, bis die Wahrheit über die Schuldigen ans Licht kommt. 23 Jahre lang mussten die Angehörigen hören, dass die 96 Opfer selbst für ihren Tod verantwortlich gewesen sein sollen. Trevor Hicks, der seine beiden Töchter verlor, konnte sich damit nie abfinden und kämpfte mit der von ihm organisierten Selbsthilfegruppe „Hillsborough Family Support Group“ um die Aufarbeitung des Unglücks. Es ging um die Polizeiverantwortlichen, die die Fans nicht in die leeren Bereiche des Stadions umleiteten und Rettungskräfte zu spät ins Stadion ließen. Die Beamten vertuschten mit gefälschten Beiweisen ihr eigenes Versagen.

    Der Report 23 Jahre danach

    Die Boulevardzeitung „The Sun“ ist bis heute unter Liverpool-Anhängern verhasst, weil sie kurz nach der Katastrophe einen Artikel mit der Überschrift „Die Wahrheit“ veröffentlichte, in dem es heißt, dass Fans die Opfer bestohlen und „auf die Leichen uriniert“ hätten. Zudem sollen Betrunkene Hilfe leistende Rettungskräfte und Polizisten aufgehalten haben.

    Nichts von alldem stimmte. Das ergab ein Report – 23 Jahre danach. Eine unabhängige Untersuchung kam zu dem Schluss, dass 41 Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn schneller Hilfe gekommen wäre. Daraufhin kassierte der Londoner High Court die alten Urteilssprüche. Der Vorsitzende Richter stellte gleich zum Prozessauftakt klar, dass die Opfer keine Schuld treffe. „Das ist absolut großartig. Wir wussten es immer“, sagte die heutige Vorsitzende der Selbsthilfegruppe, Margaret Aspinall.

    Sie hat in der Tragödie von Sheffield ihren damals 18 Jahre alten Sohn James verloren. Es ist jener Jugendliche, der so stolz darauf war, ein Ticket ergattert zu haben. Bei der Gedenkminute am Sonntag wirkt sie wie versteinert.

    Drei Wochen nach der Katastrophe fand damals das Wiederholungsspiel statt. Der FC Liverpool siegte und gewann später den Pokal. Im folgenden Jahr wurde die Mannschaft englischer Meister. Seitdem warten die Fans auf den nächsten Titel. Momentan sind sie so nah dran wie lange nicht. Trainer Brendan Rogers hat die Saison den Opfern des 15. April 1989 gewidmet. „Ich weiß, dass im Himmel 96 Menschen sind, die dieses Team immer unterstützen werden.“

    Was die Katastrophe für den Fußball in Deutschland bedeutet

    Stadien: Stehplatzblöcke in Deutschland wurden im Gegensatz zu englischen Stadien nicht abgeschafft.

    Pro Stehplatzblock sind jedoch maximal 2500 Zuschauer erlaubt.

    Im Stehplatzbereich müssen Wellenbrecher (Metallgeländer) vorhanden sein.

    Rettungstore zum Spielfeld mussten in jedes Stadion eingebaut werden, damit eine Evakuierung schnellstmögliche eingeleitet werden kann.

    Bei Risikopartien müssen Pufferblöcke frei gehalten werden.

    Leistungsfähige Verkehrs- und Rettungswege müssen garantiert sein.

    Es muss eigene Räumlichkeiten für Sicherheits-, Ordnungs- und Rettungskräfte geben.

    Die Anzahl von Drehkreuzen wurde erhöht. In Sheffield waren es für 10 000 Liverpool-Fans nur sieben Drehkreuze.

    Zur Überwachung der Aktivitäten in den Fanblocks werden heute zahlreiche Kameras genutzt.

    Bei Risikospielen und internationalen Begegnungen gibt es keinen Alkohol.

    Das Prinzip der durchgängigen FanTrennung wurde intensiviert.

    Jeder Profi-Verein hat einen professionellen Stadionsprecher. Vereine und Verbände: Sicherheitsbeauftragte in deutschen Stadien sind heute Pflicht.

    Vereine und öffentliche Sicherheitsträger arbeiten bei der Organisation von Spielen eng zusammen. Ordnungsdienste wurden professionalisiert.

    Gewalttäter können durch bundesweite Stadionverbote ausgeschlossen werden. Polizei und Sicherheitsbehörden: Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) wurde bereits 1992 eingeführt. Sie dient dem Austausch relevanter Informationen zwischen Spielortbehörden und Polizei.

    Die ZIS orientiert sich dabei an den Sicherheitsstandards der Behörden in England.

    An- und Abreisewege für Fans werden durch Überwachung des Fanreiseverkehrs gesteuert.

    Bei Spielen sind szenekundige Beamten der Polizei und fankundige Beamte der Bundespolizei im Einsatz.

    Die Arbeitsgemeinschaft Sport und Sicherheit unterteilt Fans je nach Gewaltbereitschaft in Kategorien.

    Die Innenmininsterkonferenz beschäftigt sich einmal im Jahr mit dem Thema „Sicherheit im Fußball“. Fanszene:

    Professionelle Fanbeauftragte sind heute Pflicht. Präventive Fanarbeit durch sozialpädagogische Projekte wurden ausgebaut.

    Es gibt mittlerweile einen ständigen Dialog zwischen Vereinen, Fans und Verbänden durch regelmäßige Zusammenkünfte. Text: chd/AZ

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